Die Insel der Dämonen
Hügelkamm. Der Chor hinter dem Hügel wurde lauter und mißtönende Echos hallten von den kahlen Felskuppen wider. Welche Qualen mochten die armen Seelen erleiden?
Marguerite erreichte den Felsgrat auf dem Hügelkamm. Sie legte die Arkebusen ab, setzte Henriette in ihrem Fellbündel an eine windgeschützte und ebene Stelle, bekreuzigte sich und murmelte ein Stoßgebet. Dann legte sie sich auf den Boden und kroch langsam voran.
Eisiger Wind schlug ihr ins Gesicht. Nach Norden hin fielen die Hügel viel steiler ab als nach Süden. Unten brandete der Ozean an eine breite Landzunge. Marguerite kroch noch ein wenig weiter vor - dann konnte sie es sehen.
Weit unter ihr lagen, krochen und wanden sich Hunderte, fast Tausende massige, häßliche Körper, schrien, brüllten, heulten und bellten. Robben! Es war eine riesige Kolonie von Aberhunderten von Robben, die hier den Winter verbrachten.
Marguerite rutschte ein Stück zurück, legte sich auf den Rücken und ... lachte. Sie lachte so laut, wie es auf dieser Insel noch nie gehört worden war. Davor hatten sie sich monatelang gefürchtet? Vor Seehunden? Sie lachte Tränen. Nein, Henri konnte nicht hier oben gewesen sein - er hatte auf halbem Wege angehalten und die Wahrheit nie erfahren. Ja, es war ein Höllenlärm, aber er kam von harmlosen Tieren. Es gab kein Höllentor und keine gequälten Seelen.
Was Damienne wohl dazu sagen würde? Marguerites Gelächter erstarb - Damienne!
Wo war sie nur?
Noch eine ganze Woche lang suchte Marguerite die Insel nach ihrer Freundin ab - vergeblich. Entweder hatte sie sich in Luft aufgelöst oder sie hatte die Insel verlassen, eine andere Erklärung hatte Marguerite nicht. Nun war sie allein mit Henriette in der Hütte, und schon wegen ihrer Tochter erlaubte sie sich nicht, sich gehen zu lassen. Sie jagte, fischte, sammelte Holz, als wäre alles beim Alten. Wer konnte schon sagen, ob Damienne nicht plötzlich wieder auftauchen würde - gesund und munter wie ein Fisch im Wasser? Marguerite lebte von der Hoffnung, aber es war nur eine winzige und verzweifelte Hoffnung, und jeden Tag, den Damienne nicht zurückkam, wurde diese Hoffnung kleiner.
Der Winter blieb hart und streng. Packeis umschloß die Insel und eisiger Frost machte Marguerite das Leben schwer. Henriette war weitgehend abgestillt und sie fütterte das Mädchen mit einem Brei aus Inselmehl und Muttermilch, mengte sogar manchmal etwas Fisch darunter. Henriette aß alles, aber sie schien nicht mehr zu wachsen. Mitte Februar begann sie zu husten. Sie weinte nicht, sie klagte nicht, sie hustete nur.
Marguerite machte sich Sorgen. Bald kam Fieber hinzu und das Atmen fiel dem Kind schwer. Keuchhusten - Marguerite kannte das aus Frankreich. Dort gab es Kräutertränke, die halfen oder mindestens das Atmen erleichterten - aber hier, auf dieser Insel ...
Henriettes Fieber stieg und ihr Atem wurde unregelmäßiger und der Husten schwerer. Mit ihren großen Augen sah sie Marguerite ernst an, so als litte sie gar nicht unter ihrer Krankheit, sondern staunte nur über den schweren Husten. Marguerite war verzweifelt. Sie brauchte Hilfe, aber Damienne blieb verschwunden und natürlich konnte sie keine andere Hilfe erwarten. Sie hoffte auf ein Wunder, betete, daß ein Schiff käme, um Henriette zu retten. Aber dort draußen auf dem Meer war kein Segel, nur endloses Packeis.
Da kam ihr ein Gedanke. Sie schüttelte den Kopf, denn das, was ihr in den Sinn kam, war viel zu gefährlich. Aber der Gedanke war da und er ließ sich nicht mehr abschütteln. Sie wußte, daß sie es versuchen mußte.
Noch vor dem nächsten Morgengrauen setzte sie Henriette in den Tragebeutel, packte sie so warm wie nur irgend möglich ein, nahm Fackeln, eine Büchse und Nahrung für drei Tage, dann brach sie auf. Es war eine sternklare Nacht. Nordlichter zuckten in allen erdenklichen Farben über den Himmel. Doch Marguerite beachtete sie nicht. Sie hetzte nach Süden, zur Bucht ihrer Landung. Das Packeis hatte sich hier bis aufs Ufer geschoben. Sie zögerte nicht einen Moment, sondern sprang auf das Eis und machte sich auf den Weg nach Süden. Irgendwo dort lag die Insel Baccalaos. Es konnte nicht weit sein, vielleicht ein Tagesmarsch über das Eis. Dort gab es Menschen. Es mochten gefährliche Wilde sein, aber vielleicht hatten sie auch eine Medizin, die Henriette heilen konnte.
In Ufernähe war das Packeis zu einer festen Platte gefroren und Marguerite kam zunächst gut voran. Als die Sonne aufging, war sie
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