Die Insel der Dämonen
sie, warum er sie nicht gleich, noch an Bord des Schiffes, getötet hatte - das Blut seiner Nichte sollte nicht an seinen Händen kleben. Er hatte sie auf einer Insel ausgesetzt - und der Rest lag nicht in seiner Hand. Er hatte sie, Damienne und Henri - und schließlich auch Henriette - dem Tod, nein, schlimmer noch: dem Vergessen preisgegeben. Wenn niemand erfuhr, was ihnen hier widerfahren war, dann würde auch nie jemand de Roberval zur Rechenschaft ziehen.
Marguerite schloß die Augen. Ihr Onkel hatte sein Ziel beinahe erreicht - und wenn sie selbst jetzt auch noch starb, würde niemand je erfahren, was sie durchgemacht und erlitten hatten, und es würde nie jemand wissen, daß es eine kleine Henriette gegeben hatte.
Sie öffnete die Augen wieder. Sie wollte nicht, daß das alles in Vergessenheit geriet! Die ganze Welt sollte es erfahren, nicht wegen des Onkels, sondern wegen Henri und Henriette und wegen Damienne!
Damienne . Immer noch lag das Schicksal der Freundin im Dunkeln. Ein weiterer Grund, aufzustehen, zu essen und zu überleben! Marguerite fühlte die ungeheure Last der Trauer auf ihren Schultern, aber dann richtete sie sich auf. Es war das Schwierigste, was sie je vollbracht hatte.
Sie lebte weiter, auch wenn es ein Leben ohne Freude war. Es schien ihr manchmal, als würde ihr Körper von selbst all jene Dinge tun, die zum Leben notwendig waren, und sie stand daneben und sah nur zu. Oft erwachte sie nachts und fühlte, wie ihr Tränen über das Gesicht rannen, und sie weinte, bis sie erschöpft wieder einschlief. Aber sie zwang sich, weiterzumachen, Holz zu holen, fischen zu gehen.
Und Anfang März bekam sie endlich Gewißheit über das Schicksal Damiennes.
Der Winter wich nur langsam von der Insel und die Eisdecke auf dem Bach war immer noch stark und geschlossen, wenn auch nicht mehr so dick wie noch eine Woche zuvor. Marguerite hatte dicht am Ufer ein neues Loch in das Eis geschlagen, denn die Eisdecke schien ihr nicht mehr zuverlässig genug, um sich darauf zu wagen. Der Platz lag unter den dichten Zweigen eines Baumes, die den Bach zur Hälfte überwachsen hatten. Solche Plätze waren ideal, denn da konnten die Fische die Silhouette des Jägers nicht sehen, die sich andernorts gegen den Himmel abzeichnete. So kauerte sie nun an dem Loch und konzentrierte sich auf die Jagd. Dann sah sie aus dem Augenwinkel etwas Graues unter dem Eis schimmern.
Zuerst dachte sie, es sei ein Stein, doch die Form war seltsam. Sie hangelte sich an den Zweigen entlang etwas näher heran und wischte eine dünne Schicht Schnee beiseite.
Dort lag ...
Sie wußte es sofort. Mit der Lanze stieß sie das Eis auf. Unter dem Eispanzer kam etwas in Bewegung und trieb an die Oberfläche.
Durch die Eisschicht hindurch erkannte Marguerite Damiennes Gesicht. Da war sie, die so lang Gesuchte, eingeschlossen in einen kalten Panzer gefrorenen Wassers. Marguerite sah das schmerzverzerrte Gesicht und die nackte Hand, die noch immer den Speer umklammerte.
Sie brach das Eis auf, wäre fast selbst in den Bach gestürzt und zog dann den gefrorenen, toten Körper der Freundin an Land. Nur ein einziges gequältes Stöhnen drang aus ihrer Brust. Sie hatte keine Tränen mehr, die sie noch hätte weinen können. Es war klar, was geschehen sein mußte - das Eis war gebrochen und der Schock des kalten Wassers hatte Damienne ohnmächtig werden lassen, vielleicht sogar getötet. Sie war untergegangen und die Strömung hatte sie unter das Eis gedrückt. Wäre sie nicht an einer Baumwurzel hängen geblieben, wäre ihr Körper wohl bis ins Meer hinausgetrieben. Doch so hatte Marguerite nun die traurige Gewißheit, daß auch die Letzte ihrer Lieben gestorben war.
Damienne fand ihre Ruhestätte neben Henri und Henriette. Marguerite betete lange für sie. Sie waren alle drei ohne Beichte und ohne Sterbesakramente gestorben, die kleine Henriette sogar ungetauft. Marguerite wußte, was die Kirche darüber sagte, aber sie weigerte sich zu glauben, daß ihr kleiner Engel nicht in den Himmel gekommen war. Dort würde sie neben Henri und Damienne sitzen und auf sie warten - doch noch war die Zeit für sie selbst nicht gekommen. Sie würde überleben und sie würde der ganzen Welt von ihrem Schicksal berichten.
Sie verbrachte viele Stunden an den Gräbern und sprach mit Henri, mit Henriette und mit Damienne. Das tröstete sie. Doch das Einzige, was ihr antwortete, war die grausame Stimme, die sie stets von Neuem zu verhöhnen schien. Marguerite
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