Die Insel der Dämonen
schon einige Hundert Meter von der Insel entfernt. Dann veränderte sich das Eis. Es wurde brüchiger, zeigte Risse, und Marguerite mußte mit der Arkebuse ein ums andere Mal die Festigkeit prüfen. Sie kam nun weit weniger schnell voran.
Die große Platte zerfiel in riesige Schollen. Noch waren sie fest ineinander verkeilt, aber es gab Spalten und Risse und mehr als einmal wäre Marguerite beinahe gestürzt. Sie dachte nicht darüber nach, sondern eilte weiter.
Doch je weiter sie sich aufs Meer begab, um so stärker versetzte dies die Schollen in Bewegung. Es krachte, Eis wurde zermahlen, manchmal direkt unter ihr.
Marguerite mußte jetzt Umwege einschlagen. Die Schollen wurden kleiner und die Spalte breiter. Die Sonne tauchte das Eis in gleißendes Licht und blendete sie. Sie war erschöpft, hetzte weiter, ohne zu rasten, das fiebernde Kind auf dem Rücken.
Kurz nach Mittag stieß sie auf einen breiten, offenen Wasserarm. Die nächste große Scholle war unerreichbar. Verzweifelt blickte sie sich um, aber es schien keinen Weg hinüber zu geben. Verzweifelt folgte sie dem Graben einige Hundert Schritte, doch er wurde nicht schmaler und verwehrte ihr den Weg.
Sie ging ein Stück zurück, zu einem Eisberg, den sie kurz zuvor passiert hatte. Er ragte in doppelter Mannshöhe aus dem Packeis, hoch genug, um Ausschau zu halten. Sie mußte einen Weg finden!
Sie schlug mit der Arkebuse Löcher in die Flanke des Eisbergs, damit sie hinaufklettern konnte. Der Schaft der Büchse zerbrach, doch das war ihr gleichgültig. Ihre Finger waren steif gefroren und blutig, aber sie ignorierte den Schmerz. Mühsam zog sie sich hinauf. Da lag sie, die Insel Baccalaos, zum Greifen nahe! Sie konnte die Hügel sehen, die Baumgruppen an Land.
Doch zwischen ihr und Baccalaos lag ein endloser Wasserarm, mehrere Hundert Schritt breit. Es gab keinen Weg hinüber. Der Atlantik versperrte ihr den Weg. Ihre Flucht war gescheitert. Sie mußte umkehren.
Es war finstere Nacht, als sie die Hütte wieder erreichte. Henriette hatte Schüttelfrost, aber sie klagte nicht, sondern blickte Marguerite nur unverwandt mit fieberglänzenden Augen an.
Ihr Zustand verschlechterte sich in den nächsten Tagen weiter. Marguerite suchte unter dem Schnee nach Gräsern und Kräutern, kochte sie auf, aber nichts war dabei, was helfen wollte. Sie mußte ihr Kind warm halten, den Fieberschweiß abtrocknen.
Am vierten Tag ließ der Husten nach und der Atem wurde flacher, aber regelmäßiger. Marguerite faßte das als gutes Zeichen auf.
Am Nachmittag versuchte Henriette noch einmal, tief einzuatmen. Dabei sah sie Marguerite staunend an, so als wundere sie sich darüber, daß ihre Lungen keine Luft mehr bekamen. Dann atmete sie nicht mehr.
Marguerite brauchte eine Stunde, um zu verstehen, was geschehen war, und noch länger, um es wirklich zu begreifen. Ihre Tochter war tot. Das konnte nicht sein!
Sie weinte drei Tage lang und fragte sich immer wieder, warum sie nicht auch einfach sterben durfte. Sie versuchte es. Sie legte sich neben Henriette auf das Lager, aß nicht, trank nicht, wollte nur tot sein.
Aber es funktionierte nicht. Etwas in ihr weigerte sich, einfach aufzugeben.
Sie würde ihre Tochter beerdigen, und dann würde man sehen, vielleicht würde auch sie danach ihren Frieden finden.
Es war nicht leicht, in dem hart gefrorenen Boden ein Grab auszuheben. Sie verwendete das Rohr der verrosteten Arkebuse, um die Erde aufzureißen, dennoch dauerte es fast den ganzen Tag, die kleine Grube für ihre Tochter auszuheben. Sie bettete sie neben Henri.
Als der Körper ihrer Tochter in der Erde lag, brauchte sie eine weitere Stunde, bis sie sich überwinden konnte, das Grab zu schließen.
In der Hütte brach sie völlig erschöpft zusammen. Sie hatte tagelang nicht geschlafen, nichts gegessen und ihr Körper forderte sein Recht. Sie schlief fast zwölf Stunden. Sie hätte gerne länger geschlafen, denn im Augenblick des Erwachens traf sie sofort wieder der Schmerz des Verlustes. Warum konnte es nicht einfach vorbei sein? Mit dem Schmerz, mit ihr?
Lange lag sie auf dem Lager. Das Feuer im Herd war seit drei Tagen erloschen. Es war kalt, aber nicht kalt genug, um zu erfrieren. Sie starrte an die Decke, und plötzlich dachte sie an ihren Onkel, der sie und die Menschen, die sie am meisten geliebt hatte, auf dieser verfluchten Insel ausgesetzt hatte. Er hatte sie zum Tode verurteilt, das hatte er gewußt und sie wußte es jetzt auch. Mit eisiger Schärfe verstand
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