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Die Insel der Dämonen

Die Insel der Dämonen

Titel: Die Insel der Dämonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Fink
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eine Nußschale von einem Hammer zertrümmert wird. Der Baske wurde ins Meer geschleudert, wie alle seine Kameraden - aber er hatte Glück. Er erwischte eine Planke, an die er sich klammern konnte. Und so trieb er, ein Spielball der gewaltigen Wellen, den ganzen Sturm hindurch auf dem endlosen Meer. Er rief nach seinen Kameraden, aber sie antworteten ihm nicht. Sie waren längst am Grund des Atlantiks angekommen - wenn der Atlantik hier überhaupt einen Grund hat und nicht direkt in der Hölle endet.«
    Die Glocke läutete erneut, der Baske sang, und wieder spuckte der Alte, wie um seinem Satz Nachdruck zu verleihen, in die See.
    »Der Kapitän sagt, da unten gibt es nichts außer Stockfisch und ein paar Walen«, wandte Jacques ein, aber er sagte es mehr, um sich selbst Mut zu machen. Ihm wäre es lieber gewesen, der Alte würde damit aufhören, in die See zu spucken. Wenn dort unten wirklich irgendeines jener riesenhaften Ungeheuer wohnte, dann sollte Antoine es besser nicht reizen.
    »Kapitän Marais ist ein kluger Mann«, sagte Antoine gedehnt, »und ich habe allergrößten Respekt vor ihm, aber er hat nicht das gesehen, was ich gesehen habe. Es gibt in diesen Gewässern eine Insel - sie muß ganz hier in der Nähe sein —, von der die Schreie der in der Hölle gefolterten Seelen herüberschallen. Eine Insel, auf der feuerspeiende Dämonen nur darauf warten, daß sich unschuldige Seeleute an ihre Küste verirren. Sie tanzen die ganze Nacht und ihre Schreie mischen sich mit den Rufen der Gemarterten. Diese Insel hat ihre Wurzel in der Hölle.« Er brachte sein zernarbtes Gesicht dicht an Jacques’ Ohr und flüsterte: »Und ich habe sie selbst gesehen!«
    Jacques schwieg beunruhigt. Diese Geschichte kannte er noch nicht, und er wunderte sich, daß der Alte sie ihm bislang noch nie erzählt hatte. Er war sich aber auch nicht sicher, ob er sie wirklich hören wollte. Auch dem Alten schien bei dem Gedanken an jene Insel nicht wohl zu sein.
    Ein erneuter Schlag der Glocke holte sie zurück zu Rodrigos Schicksal.
    »Der Sturm ließ irgendwann nach und unser Baske trieb endlose Tage auf offener See. Waren es drei? Waren es vier? Niemand weiß es. Mit seinem Gürtel band er sich an die Planke, um nicht abzurutschen, und das rettete ihm das Leben — das und sein Gesang.«
    »Sein Gesang?«, fragte Jacques wie schon unzählige Male zuvor an dieser Stelle der Geschichte.
    »Ja, sein Gesang. Sein Gesang half ihm, in den finsteren Nächten die Angst zu besiegen. Und er sang nicht irgend etwas — er sang alle Kirchenlieder, an die er sich erinnern konnte, und wenn er den Text nicht wußte, sang er nur die Melodie. Vielleicht haben ihn wirklich die Engel erhört und beschützt — wenn es denn an diesem gottverlassenen Ende der Welt Engel geben sollte. Es heißt, die Fischer, die ihn schließlich aus dem Wasser zogen, hätten ihn gehört, lange bevor sie ihn sahen, und der Baske behauptet steif und fest, daß er Glocken gehört habe, als die Rettung nahte. Kirchenglocken, mitten auf dem Meer! Wenn das nicht verrückt ist, dann weiß ich es nicht. Jedenfalls hat er danach all sein Erspartes zusammengenommen und sich eine Glocke schmieden lassen. Ohne die fährt er nicht mehr zur See. Deshalb halten ihn alle für verrückt. Sie sagen, eine Glocke gehört in die Kirche, nicht auf ein Schiff. Aber wenn du mich fragst: Er schlägt sie in jeder nebligen Nacht und er singt in jeder Nacht und geschadet hat es bislang nicht.«
    Wieder schlug die Glocke. Antoine und Jacques schwiegen und lauschten der heiseren Stimme des Basken.
    Über der Erzählung des Alten hatte es sich aufgehellt. Der neue Tag begann und eine leichte Brise hob an. Bewegung kam in die Nebelschleier und irgendwo dahinter stieg ein roter Lichtpunkt über den Horizont.
    Eine Möwe schrie ganz in der Nähe. Jacques runzelte die Stirn. Möwen bedeuteten Nähe von Land.
    Auch Antoine horchte auf. Der Baske war verstummt. Wieder ein Schrei. Doch diesmal war es keine Möwe. Es mußte ein Vogel sein, den Jacques nicht kannte. Die leichte Brise wurde stärker, und der leichenblasse Nebel verflüchtigte sich so rasch, als hätte es ihn nie gegeben. Der Lichtpunkt der Sonne wurde stärker - aber er befand sich an der falschen Stelle!
    »Mutter Gottes«, entfuhr es Antoine, als sich plötzlich, wie aus dem Nichts, der Umriß einer felsigen Insel vor ihnen auftat, und dort, am Ufer dieser Insel, wartete er auf sie: der Dämon, tanzend, Feuer speiend, ein riesenhafter Schatten

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