Die Insel der Dämonen
lauschte ihr. Die Stimme quälte sie nun schon bald zwei Jahre. Sie stand auf, nahm die letzte Arkebuse zur Hand und machte sich auf den Weg.
Sie ging hinauf zum Mückensee, umrundete ihn und kletterte den Hügel dahinter empor. Nach einer Stunde war sie oben angelangt - doch die Stimme kam nicht von diesem Hügel. Zahllose Möwen umschwirrten sie, und ihr Schreien und Lärmen machte es fast unmöglich, die Geisterstimme noch zu hören - geschweige denn zu orten. Sie wanderte weiter, von Hügelkamm zu Hügelkamm, umlief Felsspalten, löste kleine Lawinen aus und rutschte einmal einen halben Hügel hinunter - aber sie hielt nicht an. Von irgendwo hier oben mußte diese verfluchte Stimme kommen! Vier weitere Hügel mußte sie bezwingen, bis sie sicher war: Die Stimme - oder besser: ihr Besitzer - wohnte auf der nächsten Anhöhe.
Es war ein steiler und felsiger Hügel, abweisend und verwittert, von nackten und zerklüfteten Felsen gekrönt. Marguerite fand wenig Halt für den Aufstieg. Die verkrüppelten Büsche, an denen sie sich festhalten wollte, waren nur schwach verwurzelt und gaben nach, der Boden war trügerisch und mehr als einmal rutschte sie ab. Aber Marguerite gab nicht auf. Die Stimme wurde lauter, irgendwann war sie so laut, daß sie selbst die Möwen übertönte.
Endlich erreichte Marguerite die zerklüftete Kuppe. Der Hügel, auf dem sie stand, war seit Jahrtausenden Wind, Wetter und dem ewig anbrandenden Meer ausgesetzt. Sein felsiger Rücken war abgeschliffen von Regen, Schnee und Hagel, und er war zerklüftet und voller tückischer Risse und Spalten. Das war das Zuhause der Stimme. Durch eine dieser Spalten, die tiefste, rissigste und von zahllosen Brüchen gezeichnete Felsspalte, zog der Wind, nichts anderes als der Wind. Marguerite stand davor und lauschte. Der Wind flüsterte, sang und heulte.
Die Spalte war tief, aber nicht besonders breit. Marguerite zog ihren Überwurf ab und stopfte ihn hinein. Die Stimme erstarb zu einem Flüstern. Sie kletterte ein Stück hinunter, sammelte einige große Steine auf und schleppte sie nach oben. Damit beschwerte sie das Stück Fell, stopfte Erde und weitere Steine hinein, bis die Stimme endgültig schwieg. Nie wieder wollte sie sie heulen hören. Erst als sie ganz sicher war, daß selbst ein Orkan die Spalte nicht mehr öffnen würde, war sie zufrieden. Das war ihr Geburtstagsgeschenk für Henriette. Es war auf den Tag genau ein Jahr her, daß ihre Tochter zur Welt gekommen war.
Es wurde Frühling. Marguerite war jetzt die alleinige Herrscherin der Insel, aber es war ein einsames Reich. Sie erkundete das ganze Eiland, schon damit sie ihren Lieben etwas zu erzählen hatte, wenn sie ihre Gräber besuchte. Sie jagte, fischte, legte Vorräte an für den kommenden Winter und säte sogar bei der Hütte wilden Weizen für das kommende Jahr aus. Sie würde einfach von Jahr zu Jahr weitermachen - eines Tages mußte schließlich Rettung kommen und bis dahin würde die Insel sie am Leben erhalten.
Den Sommer über wanderte sie über die Insel und übernachtete oft im Freien. Dann betrachtete sie das Nordlicht oder die Sterne und auch davon erzählte sie ihrer Tochter und Henri und Damienne. Angst davor, daß im Dunkel die Dämonen lauerten, hatte sie nicht mehr.
Manchmal stieß sie bei ihren Wanderungen auf Zeugnisse ihrer eigenen Vergangenheit - die Feuerstelle auf dem Signalhügel, von dem aus sie manchmal den Sonnenaufgang beobachtete, die Reste eines Elchskeletts am Mückensee, in dem sie gelegentlich badete - das weckte Erinnerungen, schöne Erinnerungen, die sie traurig stimmten, aber tief im Inneren auch ein wenig wärmten.
Mitte September war sie wieder einmal unten in der Salzbucht und erntete die Salinen ab. Es war ein lauer Abend, und sie beschloß, die Dämmerung abzuwarten und ein paar Krebse zu fangen. Sie lächelte, als sie daran dachte, wie sie hier ihre ersten Krebse gejagt hatten und was für ein Festmahl das damals gewesen war.
Es wurde kühl, aber sie blieb unten in der Bucht, machte Feuer und starrte in die Flammen. Der Herbst kündigte sich an. Nebel zog auf. Sie hatte noch viel Arbeit vor sich, wenn sie den Winter überstehen wollte. Es würde nicht leicht werden, denn sie hatte kaum noch Munition. Noch ein Dutzend Kugeln besaß sie - und auch nicht viel mehr Pulver als für zehn oder zwölf Schuß. Sie hatte keine Ahnung, wie es dann weitergehen sollte - aber ihr würde schon etwas einfallen.
Es war ein friedlicher Abend, der Himmel war
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