Die Insel der Krieger
konnte nichts Gutes im Sinn haben. Mit einem Satz war Nalig bei dem Unbekannten, packte ihn von hinten und hielt ihn fest. »Hab ich dich«, rief er. Da wurde er nach hinten geworfen und spürte eine Klinge am Hals. Einen erschrockenen Moment lang dachte Nalig, es wäre um ihn geschehen. Dann erkannte er Mira. »Was macht Ihr denn hier draußen? « , wollte er wissen. »Es geht dich zwar nichts an, aber ich sammle Mondkraut – für Eldo. Es ist am wirkung s vollsten, wenn es bei Mitternacht gepflückt wird. Und was willst du hier mitten in der Nacht? « »Ich habe ein Geräusch gehört und eine Gestalt gesehen, die im Wald verschwunden ist. « Mira legte die Stirn in grimmige Falten. »Die einzige Gestalt, die ich heute hier im Wald gesehen habe, bist du. « »Tatsächlich? « »Allerdings. Also solltest du zurück in den Tempel gehen und aufhören, unschuldige Leute zu erschrecken. « Mira ließ von Nalig ab und verschwand mit ihrem Körbchen tiefer im Wald. »Lässt sich von einer alten Frau übertö l peln«, murmelte sie im Gehen. Nalig rappelte sich auf. Unschlüssig starrte er in den Wald. Dann zuckte er mit den Schultern und ging zurück zu Ilia.
Das Mädchen wartete voller Unruhe auf Naligs Rückkehr. Draußen war alles still. Wohin war er nur gegangen? Ihn alleine in der Dunke l heit zu wissen, wo möglicherweise eine unbekannte Gefahr lauerte, ängstigte sie. Auf leisen Sohlen ging das Mädchen durch die Küche zu der Tür, durch die Nalig in die Nacht verschwunden war. Angestrengt lauschte sie in die Finsternis. Keine Spur von Nalig. »Wenn doch nur Eldo da wäre«, dachte Ilia beklommen. Ganz unvermittelt tauchte Nalig vor ihr auf. Ilia fuhr zusammen, atmete dann jedoch erleichtert auf. »Hast du herausgefunden, was es war? « , fragte sie. Der Junge legte den Finger an die Lippen. »Was ist los? « , flüsterte Ilia. Aus der dunklen Küche gegen das Mondlicht blickend, konnte sie Naligs Gesicht nicht ausmachen. Der Junge streckte ihr die Hand entgegen. Zögerlich reichte sie ihm die ihre. Nalig griff ihr Handgelenk, zog sie ins Freie und wandte sich nach rechts. »Wohin willst du? « , fragte Ilia und folgte Nalig, der noch immer kein Wort sprach und sie nicht ansah.
Als Nalig zurück zum Tempel kam, blieb er verwundert stehen. Ilia trat gerade aus der Küche und folgte jemandem hinaus. Nalig erkannte in der Nacht nur Ilias weißes Kleid. Von der Person, der sie folgte, sah er nicht viel. Doch er war sich sicher, dass es ein Junge war. »Ilia«, hörte das Mädchen plötzlich eine vertraute Stimme hinter sich. Abrupt blieb sie stehen und drehte sich um. Nalig kam von hinten auf sie zu. Er blieb vier Schritte vor ihr stehen und musterte verdutzt die Gestalt, mit der sie ging. Ein kalter Schauer lief über Ilias Rücken. Langsam wandte sie den Kopf und blickte auf ihren Arm hinab, wo Naligs Finger ihr Handgelenk umschlossen. Nalig trat noch einen Schritt näher. Eine Wolke zog weiter und ließ etwas mehr Mondlicht zur Erde fallen. Mit Entsetzen erkannte Nalig, dass der Junge, der Ilia wegfüh r te, er selbst war. Er hatte exakt dieselbe Größe und Statur, dieselbe Haarfarbe und Frisur und trug seine Kleidung. Dann wandte sein Doppelgänger den Kopf und Nalig unterdrückte einen Aufschrei, als er erkannte, dass das Gesicht fehlte. Wo Mund, Augen und Nase hä t ten sein müssen, spannte sich nur glatte Haut über den Schädel – ein groteskes Bild. Auch Ilia blickte auf und gab ein Wimmern von sich. »Lass sie sofort los«, forderte Nalig und hob den Stab. Tatsächlich ließ sein gesichtsloses Ebenbild von Ilia ab. Seine Konturen verschwa m men, dann löste es sich zu schwarzem Dunst auf und versank in der Erde. Nalig sah, wie Grashalme verdorrten und knisternd zusamme n schrumpften. Ilia keuchte. Ihre Knie gaben nach und Nalig war gerade schnell genug bei ihr, um sie aufzufangen. Er brachte das Mädchen zurück in sein Bett und entzündete Licht in der Kammer. Lina erwac h te. »Was ist denn los? « , murmelte sie verschlafen. »Ich muss sofort mit Kaya sprechen«, erklärte Nalig und deckte Ilia zu. »Geht es ihr nicht gut? « , fragte die Küchenfrau und kam besorgt herüber. »Ihr fehlt nichts. Sie hat nur einen gehörigen Schrecken bekommen. Kannst du Kaya wecken? « Nalig wollte nicht gehen und Ilia alleine lassen. Nicht solange er nicht wusste, wo sein grausiger Doppelgänger geblieben war. »Sie wecken? « , fragte Lina unbehaglich. »Dann hoffe ich, dass es wirklich wichtig ist. « »Das ist
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