Die Insel der Mandarine
Nebel aus seinem
weit offenstehenden Mund durch den Raum. Das, man stelle es sich vor, war nur
die Szene, die sich im Vordergrund abspielte. Gleichzeitig strengte sich mein
Bewußtsein an, den Hintergrund ebenfalls aufzunehmen, was sich aber als
schwierig erwies, da sich derartig monströse Bilder, wenn man zu viele davon
sieht, gegenseitig aufheben. Alles verschwamm mir vor den Augen; ich schüttelte
heftig den Kopf - die erste Bewegung, deren ich überhaupt fähig war - und
stellte fest, daß ich tatsächlich eine weitere unheimliche Gestalt vor mir
hatte. Es war ein Mann, der jedoch das Gesicht eines abscheulichen Affen mit
silbergrauer Stirn, einer scharlachroten Nase, leuchtend blauen Wangen und
einem gelben Kinn hatte. Ich weiß nicht warum, aber ich wußte sofort, daß es
keine Theatermaske war. Es war echt. Mit einem Blick auf Meister Li und mich
bleckte der Affenmensch seine kräftigen weißen Zähne in einer Mischung aus
Lachen und Grimasse, dann war er mit einem mächtigen Satz am Fenster, schwang
sich mit einem zweiten mühelosen Sprung in den Garten hinunter und war fort,
verschwunden in der Dunkelheit, nachdem ich gerade noch hatte erkennen können,
daß er etwas im Arm trug. Das unheimliche Wesen hatte einen Käfig
davongetragen, der Meister Lis Käfig genau glich.
Meister Li war an meine
Seite getreten und fuhr in dem Augenblick, als das steinerne Glockenspiel
verstummte und der tanzende Leichnam schlaff zu Boden sank, als hätte jemand
die Fäden einer Marionette durchgeschnitten, zur Mitte des Raumes herum. Die
einbeinige, verhüllte Gestalt stand reglos da. »Vorsicht, Ochse.«
Als ob es einer Warnung
bedurft hätte. Während ich mich langsam vorwärts bewegte und dabei eine schwere
Bronzefigur als Waffe an mich nahm, deckte Meister Li, das Messer
angriffsbereit zum rechten Ohr gehoben, mein Vorrücken von der Seite. Der
Glockenspieler rührte sich noch immer nicht von der Stelle. Ich stand so, daß
ich ihm direkt ins Gesicht sehen konnte, und in den dunklen Schatten hinter der
Öffnung der Kapuze glaubte ich den Schimmer eines einzigen Auges in der
Stirnmitte zu erkennen. Plötzlich wurde ich von einem grellen Blitz geblendet.
Ich hob die Hand vor die Augen und wich mit angehaltenem Atem zurück, und als
sich der rot und schwarz gefleckte Nebel lichtete, starrte ich in den Raum.
Meister Li tat es mir unter Blinzeln und Augenreiben gleich: Es war nicht die
Spur von einem einbeinigen Glockenspieler zu sehen. Er war weder im Raum noch
draußen im Korridor, der Wind bauschte die Vorhänge vor dem Fenster auf, und
als wir hinaus in den nächtlichen Himmel blickten, sahen wir einen großen
weißen Kranich, der vor der Mondscheibe davonflog.
4
»Nun, Kao, hast du irgend
etwas Interessantes herausgefunden ?« erkundigte sich
der Himmlische Meister.
»Sozusagen«, entgegnete
Meister Li. »Zunächst einmal ist ein weiterer Mandarin... ich nehme an, du
kennst oder kanntest Mao Ou-Hsi ?«
»Unangenehmer Kerl. Der
drittgierigste Mann im ganzen Reich«, sagte der Himmlische Meister angewidert.
»Das wird den
viertgierigsten interessieren, denn er ist gerade aufgerückt«, erklärte Meister
Li.'»Mao hat sich gestern abend auf ziemlich spektakuläre Weise vom roten Staub
der Erde verabschiedet. Ochse und ich waren zufällig anwesend, als es geschah.
Das Wesen, das ihn ermordet hatte, verschwand mit einem grellen Blitzstrahl,
und das nächste, was wir sahen, war ein weißer Kranich, der vor der Mondscheibe
davonflog .«
Der Himmlische Meister, der
gerade eine Teetasse an die Lippen führte, erstarrte mitten in der Bewegung.
Für einen kurzen Moment, in dem sein Blick durchdringend und hart wurde,
erhaschte ich einen Anflug des scharfen Verstandes und der Unbeirrbarkeit aus
längst vergangener Zeit, als er noch in dem Ruf gestanden hatte, der klügste
Kopf im ganzen Reich zu sein. »Wie praktisch«, bemerkte er trocken. »Hatte er
ein Schild im Schnabel, auf dem geschrieben stand Rettet den Himmlischen Meister
vor Mutter Mengs Irrenhaus « ?«
Meister Li warf den Kopf in
den Nacken und lachte. »Ob du es glaubst oder nicht, genau so hat es sich
zugetragen«, sagte er. »Nachdem wir uns umgesehen und nichts gefunden hatten,
riefen wir die Untersuchungsbeamten und überließen ihnen den Fall, und am
Morgen begaben wir uns dann, gleich nachdem die Tore geöffnet worden waren, in
die Verbotene Stadt, verjagten die Ehrenwache von den sterblichen Überresten
des verblichenen Ma Tuan Lin, und ich ließ den Sarg
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