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Die Insel der Mandarine

Die Insel der Mandarine

Titel: Die Insel der Mandarine
Autoren: Barry Hughart
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Augenblick später
enthielt die Vitrine eine Tropfkröte weniger. Ich erwähne das, um zu erklären,
warum ich bereits zermürbt war, als wir die Schreie hörten. Es waren hohe,
erstickte Schreie, die unverkennbar aus dem Haus kamen, und ich bückte mich
unwillkürlich, damit der alte Mann auf meinen Rücken springen konnte.
    »Schnell! Wir machen uns
auf die Socken !« rief ich. Sobald ich sein Gewicht
spürte, galoppierte ich in den Gang und zur Tür hinaus, und ich hatte den
Außenhof bereits zur Hälfte überquert, als mir bewußt wurde, daß Meister Li mir
mit den Fäusten auf Kopf und Schultern herumtrommelte und schrie: »Halt, du
Idiot!« Ich kam schlitternd zum Stehen, worauf er auf meinem Rük-ken
herumzappelte und ein gichtiger Finger an meiner Wange vorbei nach vorn
deutete. »Dahin!«
    Endlich dämmerte mir, daß
ich zu dem Schreien hätte hin- und nicht vor ihm davonlaufen sollen, doch in
gewisser Hinsicht war es ein Glück, daß ich die Nerven verloren hatte und ins
Freie gerannt war. Meister Li zeigte zu einem höhergelegenen Stockwerk hinauf,
wo wir hinter einem dünnen Vorhang die Umrisse eines Menschen erkennen konnten,
der mit jemandem zu kämpfen schien. Ich merkte mir die Lage des Zimmers, dann
stürmte ich ins Haus zurück und die Treppe hinauf.
    Die Schreie kamen vom
Haushofmeister, ich bezweifle jedoch, daß er sich des Lärms, den er machte,
bewußt war. Er stand wie versteinert vor einer offenstehenden Tür im ersten
Stock, seine Augen waren geweitet und glasig vor Entsetzen, und sein Mund
öffnete und schloß sich ohne sein Zutun. Ich schob ihn aus dem Weg. Meister Li
rutschte von meinem Rücken herunter, und ich hörte das scharfe Klicken, als das
Wurfmesser, das er in einer Scheide am rechten Unterarm trug, von der
Rattanfeder im Ärmel getrieben, in seine Hand schnellte. Geduckt hechtete ich
durch die Tür, rollte mich, als ich auf dem Boden aufkam, nach links ab und
sprang, für einen Angriff gewappnet, auf die Füße, doch es folgte kein Angriff.
Vielmehr stand ich da wie der Haushofmeister, festgewurzelt auf der Stelle, den
Mund töricht offenstehend, und aus der Reglosig-keit hinter mir schloß ich, daß
auch Meister Li dastand und auf das Schauspiel starrte, das sich uns bot. Es
war eine komplizierte Szenerie, und ich brauchte eine Weile, um sie zu
erfassen. Im Vordergrund, das heißt in der Mitte des luxuriösen Raumes, stand
ein Mann, dessen Gesicht unter der Kapuze eines altmodischen Umhangs verborgen
war. Mit einem Klöppel bearbeitete er konzentriert das älteste aller
Instrumente, ein steinernes Glockenspiel. Er stand auf einem Bein, weil er
nicht mehr hatte: nur dieses eine Bein, das genau in der Mitte seines Körpers
saß. Vor ihm tanzte ein Mann in der vornehmen Kleidung eines Mandarins zu den
Klängen der Musik, aber es war ein Totentanz. Unter seinen wilden Sprüngen und
Hüpfern flogen seine Gewänder durch die Luft, mit der Kraft der Besessenheit
verrenkte und verdrehte er sich, warf die Beine hoch über den Kopf, stampfte
mit den Füßen auf den Boden, als gelte es, Löcher hineinzubohren. In seinen
Augen stand der Wahnsinn, die Schmerzen hatten ihn um den Verstand gebracht,
und er hätte gebrüllt, hätte er die Luft dazu gehabt. Mir stockte der Atem, und
ich sprang zurück, als ich die weißen Knochensplitter sah, die sich durch seine
seidenumhüllten Schenkel bohrten und das Blut, das ihm von den Knien tropfte.
Dieser Mandarin hatte getanzt, bis beide Schenkel gebrochen waren, und er
tanzte immer noch. Jetzt sprudelte ihm das Blut aus Mund und Nase, und mir
wurde klar, daß sein ganzes Inneres zu Brei gestampft sein mußte. Und noch
höher wurden seine Sprünge. Zu der dumpfen Monotonie des steinernen
Glockenspiels trommelten seine Füße immer härter auf den Boden, die Knochensplitter
bohrten sich immer weiter heraus, und dann erlosch mit einem gewaltigen
Blutschwall, der ihm über die Lippen schoß, der Funke wahnsinniger Pein in
seinen Augen. Das einbeinige Wesen ließ jetzt, indem es fortfuhr, das steinerne
Glockenspiel anzuschlagen, einen Leichnam für sich tanzen. Dieser Mandarin war
tot. Das wußte ich so sicher, wie ich wußte, daß ich selbst noch am Leben war,
und doch sah ich, daß die Leiche tanzte wie eine Strohpuppe; der Kopf rollte
und pendelte leblos auf den Schultern, Arme und Hände schlugen haltlos durch
die Luft, die zerschmetterten Beine knickten da, wo es eigentlich unmöglich
war, zwischen Knie und Hüfte, das Blut sprühte in feinem rotem
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