Die Insel der Mandarine
ausgetrocknet war, ein
grünes Fleckchen Gras, auf dem Kinder spielten. Es waren sieben, die sich an
den Händen hielten und im Kreis um ein achtes Kind tanzten. Alle acht waren
außergewöhnlich häßlich: plumpe, gedrungene Leiber, auf denen unnatürlich große
Köpfe thronten; ihre Gesichtszüge waren alles andere als ebenmäßig. Von Lautenspiel
begleitet, sangen sie mit hohen, schrillen Stimmen einen Abzählvers.
»Ziege, Ziege, spring
über den Wall,
Rupf Gras und füttere
dein Mütterlein;
Ist sie nicht auf dem
Feld und im Stall,
Gib es deinen hungrigen
Brüderlein:
Eins... Zwei... Drei...
Vier... Fünf... Sechs... Sieben...
Acht!«
Bei acht riß das achte Kind
in der Mitte des Kreises eine Handvoll Gras aus und stürmte geduckt und drohend
los. Ich kam zu dem Schluß, daß es eine Variante von Schwein am Berg war, ein
Spiel, das nichts für zarte Gemüter ist. Den Kindern im Kreis schien nur das
Treten, Stoßen und Abdrängen erlaubt zu sein, während die Ziege Hände, Zähne
und alles, was ihr in den Sinn kam, gebrauchen durfte. Es war ein wüstes Geraufe, bis am Ende die Ziege durchbrach und die
anderen Kinder kreischend und lachend auseinanderstoben. Als die Ziege ihre
Verfolgung aufnahm, vermutete ich, daß dasjenige Kind, das als erstes gefangen
wurde, die nächste Ziege sein mußte, doch ich verlor das Interesse an dem
Spiel, als ich die Musikerin entdeckte, die ihr Lied begleitet hatte.
Yu Lan trug einen der alten
Käfige in der Hand und schlug die Gitterstäbe an wie Saiten. Ein greller Blitz
ließ mich erstarren, und als ich blinzelnd die Augen wieder öffnete und klar
sehen konnte, hob die schöne Schamanin die rechte Hand und berührte in einer
einzigen fließenden Bewegung ihre linke Braue, ihre rechte Braue und die
Nasenspitze. Dann gab sie mir mit einem Nicken zu verstehen, daß ich ihrem
Beispiel folgen sollte. Ich ahmte ihre rituellen Handbewegungen nach. Lächelnd
hob Yu Lan die Hand und öffnete die zur Faust geschlossenen Finger, als wollte
sie mir einen Schatz zeigen: ein winziger Gegenstand aus Metall, der einer
Heugabel ähnelte, aber nur zwei Zinken hatte. Ich trat ganz dicht an sie heran.
Langsam hob sie das kleine Ding an die Lippen, und als sie durch die Zinken
blies, schwebte mir eine kühle Brise entgegen. Wunderbar zarter Nebel hüllte
uns ein, feiner Sprühregen nieselte auf uns herab, Regenbogen leuchteten auf,
der Duft von feuchtem Gras, Erde und Blumen war so stark, daß man darauf gehen
konnte. Die fruchtbaren Yin-Einflüsse waren so überwältigend, daß ich nicht
anders konnte, als die Arme nach ihr auszustrecken, sie zu umfangen und ihren
Namen zu flüstern; die Tochter des Puppenspielers verharrte reglos, dann hob
sie mir ihre Lippen entgegen.
»Das ist mir entsetzlich
peinlich«, sagte ich.
»Ach, ich weiß nicht«,
entgegnete Meister Li. »Du hast noch ein Paar Hosen zum Wechseln dabei, und
feuchte Träume haben einiges für sich. Auf diese Weise treffen die meisten
Männer auf sonst unerreichbare Frauen, und die finanzielle Ersparnis ist enorm.
Abgesehen davon, sind deine Träume wirklich gut. Bist du ganz sicher,
daß du das Kinderlied nie zuvor gehört hast ?« »Ja,
Meister«, erklärte ich. »Ich habe solche Lieder mein Leben lang gehört, aber
dieses bestimmt nicht .«
»Du hast ein sehr gutes
Gehör«, sagte er sachlich. »Die meisten Leute, die Kinderlieder erfinden, in
denen es ums Kämpfen geht, verwenden ein kämpferisches Vokabular. In den
wirklichen Kinderreimen kommen diese Worte jedoch nicht vor, sondern sie halten
sich an Dinge wie Ziegen, Gras, Mütter und Brüder. Ist dir eigentlich
aufgefallen, daß die Kinder eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den Statuen der
Urgötter hatten, die du auf der Hortensien-Insel vor dem Yu gesehen hast ?«
Es war mir nicht
aufgefallen, aber jetzt stellte ich fest, daß er recht hatte, auch wenn mir nicht in den Kopf wollte, warum mein Unterbewußtsein im
Schlaf aus abstoßenden Statuen tanzende Kinder machte.
»Es ist kein Rätsel, daß
dein Traum mit einer Trockenheit begann, aber etwas, das ich noch nicht ganz
fassen kann, macht mich neugierig«, sagte er. »Laß es mich wissen, wenn du
wieder einmal im Traumland herum wanderst .«
Was er mit der Bemerkung
über die Trockenheit zu Beginn meines Traumes meinte, war, daß wir gerade durch
eine von Dürre gezeichnete Landschaft zogen. Wohin man den Blick wandte,
überall waren Bauern damit beschäftigt, Brunnen tiefer in die Erde zu treiben
und jeden Tropfen
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