Die Insel der Mandarine
Schamanin führte mich auf einen sanft
schimmernden Lichtschein zu. Es war eine Kammer, deren moosbedeckter Boden wie
ein dicker Teppich war. Durch Löcher in der hohen Decke drang das Licht herein.
Die Tochter des Puppenspielers lächelte mir zu und hob die Hand an die Lippen.
Sie blies durch die zwei Zacken der winzigen Gabel, und die heilende und
fruchtbare Kraft des Yin erfüllte den Raum mit Nebel, leichtem Sprühregen und
Regenbögen. Yu Lan schmiegte sich in meine ausgebreiteten Arme.
»Außerordentlich erotisch«,
bemerkte Meister Li, wobei er das Wort erotisch genießerisch auf der
Zunge zergehen ließ. »Der Tatsache, daß die Liebe in den Zuständigkeitsbereich
der Frauen fällt, wird durch die Yin-Metapher, die wir dafür verwenden,
Rechnung getragen: Wolken und Regen, was den Nebel und die Regenbögen
erklärt, aber mußt du wirklich jedesmal, wenn Yu Lan vorbeigeht, rot werden wie
eine reife Tomate und deine Zunge sich verheddern?«
»Ich kann's nicht ändern«,
entgegnete ich kläglich. »Ich weiß, es ist albern, aber ich kann nichts dagegen
tun .«
»Und jedesmal, wenn ihr
Vater in deine Richtung sieht, mußt du wie ein ängstliches Karnickel
zusammenzucken ?« »Versetzt Euch in meine Lage !« wimmerte ich. »Wie könnte ich? Ich habe das
Wolke-Regen-Spiel nicht mehr gespielt, seit ich neunzig war .«
Der Weise schlenderte
davon, um seinen Weinkrug zu holen, und pfiff dabei In meiner Jugend suchten
die Schölten mein Bett, aber ein alter Mann ist ein Bett voller Knochen. Ich rupfte ein Bündel Binsen aus, um sie als Trockentücher zu benutzen, dann drehte
ich mich auf die Seite und schlief wieder ein.
Als wir Peking erreichten,
war noch immer nichts von einem Nachlassen der furchtbaren Trockenheit zu
spüren. Die Stadt stöhnte unter der Hitze und erstickte in dem beißenden roten
Ziegelstaub, für den sie berühmt ist. Dazu kam, daß der Himmel verhangen war
vom Gelben Wind, wie man die Wolken feinen gelben Sandes nennt, die aus dem
mongolischen Wüstenland herübergeweht werden. Gewöhnlich sind die Sandstürme im
vierten Mond vorüber, doch als Yen Shihs Wagen am Abend des zweiten Tages im
fünften Monat durch die Tore der Stadt rollte, gruben seine Räder Furchen in
die hartkörnige gelbe Decke, und der Wind fauchte in der Plane wie eine Katze,
die zum Sprung ansetzt. Meister Li vereinbarte mit Yen Shih, daß er uns am
nächsten Morgen auf der Hortensien-Insel treffen sollte, dann lenkten der
Puppenspieler und seine Tochter den Wagen zu ihrem Haus. Ich mietete eine
Sänfte, mit der Meister Li und ich uns zum Hause des Himmlischen Meisters
begaben. Wir erreichten die Verbotene Stadt, die im Licht der untergehenden
Sonne funkelte wie eine juwelenbesetzte Krone, gerade, als die Trommeln das
Schließen der Tore verkündeten, wurden jedoch augenblicklich hereingelassen.
Aber an der Tür zum Arbeitszimmer des Heiligen verstellte uns eine alte Frau,
die seit vielen Jahren im Dienste des Himmlischen Meisters stand, den Weg.
»Es geht ihm nicht gut
heute«, erklärte sie. Ihre Miene war besorgt und müde. »Er hat viel Kraft, aber irgend etwas stimmt nicht mit ihm, und ich muß Euch bitten,
morgen wiederzukommen. Gewöhnlich geht es ihm besser, wenn er geschlafen hat .« Die Tür zum Arbeitszimmer stand einen Spalt offen, und
ich hörte, wie der Himmlische Meister drinnen mit jemandem sprach. Er bediente
sich einer archaischen, zeremoniellen Sprache, die fast wie ein priesterlicher
Gesang anmutete, und nach dem, was ich von ihm wußte, so wenig das auch sein
mochte, war das ganz und gar nicht seine Art.
»Wenn es sich weiterhin
krank fühlt«, intonierte der Himmlische Meister mit würdiger, klangvoller
Stimme, »dann reib es mit dem ausgelassenen Fett vom Bein eines Schneeleoparden
ein. Gib ihm den mit drei Prisen gemahlenen Rhinozeroshorns vermischten Saft
des Zimtapfels aus den Eierschalen der Singdrossel zu trinken. Leg ihm
gescheckte Blutegel an, und wenn es dann immer noch darniederliegt, dann
erinnere dich daran, daß kein Geschöpf unsterblich ist und auch du sterben mußt .«
Die Tür ging auf. Für kurze
Zeit konnte ich den Heiligen sehen, der mit geschlossenen Augen und wie zum
Segen ausgebreiteten Armen neben seinem Schreibpult stand, dann schloß sich die
Tür hinter einer jungen Dienstmagd. Sie trug einen kleinen Hund auf einem
seidenen Kissen. Der Hund, der flach hechelte, war offensichtlich krank, und
das Mädchen war so um das Tier besorgt, daß es uns völlig übersah. Die
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