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Die Insel der Mandarine

Die Insel der Mandarine

Titel: Die Insel der Mandarine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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sich, was aus seinen
reizenden Kindern geworden ist und welches Ziel er eigentlich im Auge hat .« Yen Shih betrachtete das Bild mit lodernden Blicken.
Waren es die Flammen der Bitternis, die darin brannten? Ich wußte es nicht,
aber an seiner Stelle wäre es mir vielleicht so gegangen. Hier hatten wir einen
einstmals schönen Jüngling, dem man das Gesicht eines bemalten Affen gegeben
hatte, und Yen Shih selbst war sicherlich einmal ein gutaussehender Mann
gewesen, bevor die Pocken aus seinem Gesicht eine Fratze gemacht hatten. Die
Göttin der Seuchen hatte also beide verstümmelt. Gerade, als mir diese Gedanken
durch den Kopf gingen, erinnerte mich der Puppenspieler daran, daß er ein
Aristokrat war, und Aristokraten verschwenden keine Zeit mit Selbstmitleid. Ein
Lächeln wie ein Sonnenaufgang brach sich unvermittelt Bahn und erfüllte diese
Landschaft der Pockennarben mit Schönheit.
    »Ich kann nicht für die
anderen sprechen, aber ich finde das wunderbar !« erklärte er gutgelaunt. »Immer, wenn ich mir selbst leid tue, kann ich an
diesen munteren Burschen denken, und wenn mich unangenehme Bälger wie Bosheit
und Wahnsinn bedrängen, kann ich den Arm um Yu Lan legen .« Hier erstarb sein Lächeln. »Dabei fällt mir ein, daß das alles nicht leicht
sein kann für sie«, bemerkte er leise. »Als Wu-Priesterin ist sie der Königin
ergeben, und alle Diener der Herrin des Westens leben in Angst und Schrek-ken
vor ihrer Gebieterin .«
    Ich hatte nicht bemerkt,
daß Yu Lan sich nicht mit uns anderen erhoben hatte. Sie kniete immer noch
reglos und mit bleichem Gesicht vor der Göttin. Der Puppenspieler zog seine
Tochter sanft hoch, legte einen Arm um sie und führte sie aus der Höhle hinaus
in den Sonnenschein.
    14
    Flimmernde Hitze ließ alles
vor meinen Augen verschwimmen, so daß es mir schwerfiel, mich zu orientieren.
Ich sah einen See neben unserer Hütte und wußte, daß er nicht wirklich dort
sein konnte. Ich kniff die Augen fest zusammen, und als ich sie wieder öffnete,
war der See verschwunden, doch die Hütte schien, am unteren Rand schimmernd und
nebelhaft, drei Fuß hoch in der Luft zu schweben.
    »Was sollen wir dagegen
tun, Nummer Zehn Ochse ?« fragte meine Mutter.
    Mein Vater schwieg wie
gewöhnlich, der zusammengesunkene Körper sagte alles. Ich versuchte mich zu
erinnern: Wogegen etwas tun? Etwas stimmte nicht, das wußte ich, ebenso wie ich
wußte, daß meine beiden Eltern seit Jahren tot waren. Aber was war es, das nicht
stimmte?
    Mein Vater hatte einen der
Käfige in der Hand. Dann sah ich, daß es kein altes, sondern ein modernes Stück
war, ein einfacher Vogelkäfig aus Bambus, in dem dichtgedrängt Schwalben saßen,
und mein Vater stand am Ufer des Flusses, der an meinem Dorf vorüberfließt.
Jetzt wußte ich, was nicht stimmte. Ich blickte zum Himmel auf und sah, daß er
wolkenlos war. Dann trat ich neben meinen Vater und schaute auf den Fluß
hinunter.
    Das Flußbett war
ausgetrocknet. Ich starrte auf die harte, rissige Erde, die welkenden
Schilfgräser und ein paar Eidechsen. Wie konnte mein Vater Schwalben opfern und
um Regen bitten? Jedes Jahr verwandeln sich die Schwalben in Austern und wieder
zurück (die genauen Zeiten hierfür sind im Kaiserlichen Almanach verzeichnet),
und Austern sind die Lieblingsspeise der /««^-Drachen. Doch die Drachen, die
über das Wasser gebieten, waren geflohen, oder sie hatten sich tief in die Erde
eingegraben, und ich wußte, ohne eine Frage zu stellen, daß auch die Brunnen
ausgetrocknet waren.
    »Was sollen wir dagegen
tun, Nummer Zehn Ochse ?« fragte meine Mutter noch
einmal.
    Hinter mir hörte ich leises
Weinen, und als ich mich umdrehte, stand Tante Hua mit einem Arm voller
Papierschiffe vor mir. Es mußte der fünfte Tag des fünften Mondes sein, der Drachenboot-Tag,
an dem echte Schiffe um die Wette segeln und Papierschiffe, genannt chu-yi, die Seuchen forttragen, die die Zeit der Hitze mit sich bringt. Aber wie
sollten die Boote fahren, wenn kein Wasser da war? Neben der alten Dame stand
Onkel Nung mit vor Angst versteinertem Gesicht und rang die Hände. Ich glaubte
die Glocken des Klosters zu hören, die vom Berg herüber Alarm schlugen, und
rannte darauf zu. Die flimmernde Hitze stieg um mich auf wie eine dichte Wolke.
Jetzt veränderte sich das Geläute, wurde höher und schriller; es rührte nicht
von Glocken her, sondern kam aus den Mündern ausgelassener Kinder.
    Die Hitze wurde
davongeweht, und vor mir sah ich eine Stelle, die nicht

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