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Die Insel der Mandarine

Die Insel der Mandarine

Titel: Die Insel der Mandarine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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ihn mit unsicherer Stimme: »Meister,
ist es möglich, daß es mehr als einen Himmlischen Meister gibt ?«
    Der greisenhafte Heilige
hatte das Tor des Friedlichen Alters bereits weit hinter sich gelassen und
tatsächlich das Große Theater erreicht. Selbst im Laufschritt hätte es mir
einige Mühe bereitet, diese Strecke in dem Zeitraum zurückzulegen.
    »Konzentrieren wir uns
lieber auf diesen einen«, gab Meister Li mit finster zusammengebissenen Zähnen
zurück. »Hol ihn ein, Ochse .«
    Ich rannte in großem Bogen
los, so daß ich weit vor ihm ankommen mußte, hetzte weiter über Wege, die mit
blühendem Oleander und Granatapfelbäumen gesäumt waren, bis ich schließlich
keuchend am Brunnen der Perlenkonkubine zum Stehen kam. Dort drehte ich mich um
und blickte in die Richtung, aus der der Heilige kommen mußte. Aber da war
keine langsam schlurfende Gestalt zu sehen, und auch zur Rechten konnte ich
nichts entdecken. Vor mir lag die Begrenzungsmauer der Verbotenen Stadt, also
blieb nur noch die linke Seite. Dorthin wandte ich mich und wäre vor Schreck
fast umgefallen. In weiter, weiter Ferne, zwischen der Halle des Kaiserlichen
Friedens und dem Pavillon der Zehntausend Quellen mühte sich eine winzige
gebückte Gestalt an zwei Krücken, auf schleppenden Füßen voranzukommen.
    Meister Li hockte noch auf
meinem Rücken. Er drückte mit beiden Händen meine Schultern. »Laß uns etwas
versuchen«, sagte er ruhig. »Kehr um und nimm den Weg zwischen den Palästen der
Stillen Erde und der Wohlwollenden Harmonie, als würden wir aufgeben und auf
das Westliche Blumentor zuhalten .« Ich tat, was er mir
gesagt hatte, und wenige Augenblicke später rannte ich erneut durch ein
Labyrinth von Sträuchern und Bäumen. Nach ein paar Minuten befahl mir Meister
Li, anzuhalten, kehrtzumachen und den ersten Weg zur Linken einzuschlagen. Ich
stieg eine kleine Anhöhe hinauf, dann legte ich mich auf den Bauch und kroch
durch niedriges Gehölz. Meister Li streckte die Arme aus und schob ein paar
Zweige auseinander. Vor uns lag die ausgedehnte, samtige Rasenfläche, an die
sich der Palast des Unerschütterlichen Glücks anschloß, und als ich den Blick
darüberschweifen ließ, wurde meine Leber kalt wie ein Klumpen Eis. Der
Himmlische Meister rannte über den Rasen wie ein Panther, tief geduckt, anmutig
alle Hindernisse überspringend. Sein schlichtes Tao-shih-Gewand bauschte sich
hinter ihm wie ein Drachen, und er rannte so schnell, daß die zehn Bänder der
Robe und der wolkenbestickte Gürtel durch die Luft flatterten wie die
flirrenden Flügel einer Renn taube. Er setzte über einen riesigen Felsbrok-ken,
über den ich hätte klettern müssen, schwebte, die Beine gespreizt wie ein
Tänzer, sekundenlang in der Luft und stieß sich, als er auf dem Boden aufkam,
mit den Krücken ab, um sich zusätzlich Schwung zu verschaffen. Der Heilige
eilte weiter, bis er die Halle der Geistigen Nahrung erreicht hatte. Wären wir
auf dem Weg weitergelaufen, den wir eingeschlagen hatten, so wären wir jetzt
aus dem Gebüsch hervor und in Sichtweite der Halle und des Himmlischen Meisters
gekommen. Er blieb abrupt stehen, streckte unsicher die Krücken aus, und ein
greisenhafter, verkrüppelter Mann schleppte sich qualvoll über den Rasen.
»Meister... Meister... Meister...«
    »Warum diese Verwunderung
in der Stimme? Wir haben kein Wunder mehr gesehen, seitdem der körperlose
Hundekopf den Großen Gouverneur gefressen hat, wir waren demnach überfällig«, sagte Meister Li mit scharfer Stimme. »Ochse, zurück zur
Halle der Literarischen Weisheit, und zwar schnell .«
    Bei der Halle angelangt,
befahl er mir, durch ein Gewirr kleiner Gärten zur Seite des Gebäudes zu gehen.
Dort drückte er ein Fenster auf, durch das wir in das Innere des Hauses
kletterten. Erbrach ein Schloß auf, ging mir durch eine leere Kammer voraus und
ließ sich durch das Seitenfenster wieder hinaus und über einen Balkon tragen.
Durch ein weiteres Fenster kletterten wir dann in die Amtsstube des Himmlischen
Meisters.
    »Erinnerst du dich an das
pinselartige kleine Ding, mit dessen Hilfe die Acht Gelehrten Herren die Käfige
aktivierten? Ich nehme an, daß der Himmlische Meister eines davon hatte, als er
den Mandarinen seine Botschaft schickte. Such es«, befahl Meister Li. Der Raum
war überfüllt mit Erinnerungsstücken aus einer mehr als ein Jahrhundert
dauernden Amtszeit, und es hätte uns einen Monat kosten können, alles zu
durchsuchen, aber manchmal zahlt sich die

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