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Die Insel der Mandarine

Die Insel der Mandarine

Titel: Die Insel der Mandarine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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Entscheidung für das Nächstliegende
aus. Meister Li kippte einen Behälter mit Schreibpinseln aus und kramte darin
herum, bis seine Hand plötzlich innehielt. Bedächtig nahm er einen Pinsel auf
und hielt ihn ins Licht. Er hatte einen steinernen Griff und eine Spitze, die
aus dem Schwanz eines Moschushirsches gefertigt war. »Dieselbe Entstehungszeit,
dieselbe Kunstfertigkeit, und es fühlt sich genauso an«, murmelte Meister Li.
    Wir verließen das Gebäude
und kehrten zu den stillen, schattigen Winkeln des Bibliotheksgartens zurück.
Es war niemand in der Nähe. Meister Li wollte kein Risiko eingehen mit dem
Käfig, dessentwegen wir im Gewächshaus des Mandarins beinahe unser Leben
gelassen hatten. Er hatte ihn unter dem Gewand an seinem Gürtel festgebunden.
Jetzt holte er ihn hervor und betrachtete ihn mit nachdenklichem Blick.
    »Wir wissen, daß man ihn
aktiviert, indem man die Symbole der fünf Elemente mit einem Pinsel berührt«,
sagte er, in Gedanken versunken. »Ich hoffe nun, daß in ihm auch Botschaften
gespeichert sind. Wenn ja, würde man logischerweise annehmen, daß die Lehre der
Fünf darin enthalten ist, und dazu zählen die fünf Farben, Himmelsrichtungen,
Jahreszeiten, Himmelsstützen, Gebirge, Planeten, Tugenden, Gefühle, Tiere,
Öffnungen, Stoffe oder Aromen.«
    Mein Wissen über die Fünf
beginnt und endet mit der Tatsache, daß der Geruch, der dem Planeten Merkur
zugeordnet wird, fau-lig ist und der Ton stöhnend, also hielt
ich lieber den Mund. Es dauerte eine Weile, weil die Gitterstäbe ein Gewirr von
eingeschnitzten Symbolen aufwiesen, aber schließlich entschied er sich, es mit
den Tieren, die den Jahreszeiten zugeordnet sind, in umgekehrter Reihenfolge zu
versuchen. Als der Pinsel den Kopf einer Schildkröte berührte, machte ich einen
Satz in die Höhe. Plötzlich erfüllte ein Lichtschein den Käfig, und ich blickte
in das Gesicht eines Mandarins, den ich nicht kannte. Offensichtlich rang er,
außer sich vor Furcht und Zorn, um Fassung.
    »Warum haben wir den alten
Trottel nicht umgebracht ?« stieß er hervor. Seine
linke Wange zuckte nervös. »Ich will wissen, ich verlange, zu erfahren, warum
wir ihn nicht umgebracht haben? Ist euch Idioten nicht klar, daß wir Leichen
auf dem Gewissen haben, seitdem die Katze sich um diesen Buchhalter gekümmert
hat? Wenn wir Li Kao nicht die Kehle durchschneiden, wirft er uns den Hunden
zum Fraß vor !«
    Die Berührung des Tigers
bescherte uns einen weiteren Mandarin, der Meister Lis Kopf forderte, während
der Wasserbüffel und der Phönix nur langweilige Informationen über Handelswege
und Verkaufszahlen von sich gaben. Dann streifte Meister Li den Drachen mit dem
Pinsel, und das Gesicht, das im Käfig auftauchte, war das des Himmlischen
Meisters. Gleich bei den ersten vernichtenden Worten wurde mir klar, daß das
die Botschaft war, auf die Meister Li gewartet hatte, die Nachricht an Li die
Katze und den Großen Wächter vom Gänsetor, die wir in Bruchstücken mitangehört
hatten.
    ».. .steckt euch die
kotverschmierten Fingerspitzen in die Ohren und pult die Mistkäfer heraus, denn
ich bin im Begriff, euch die Fehler eures schwachsinnigen Unternehmens
vorzuführen !«
    Oh, er setzte ihnen gehörig
zu. Er kehrte ihr Innerstes nach außen. Die Luft war mit beißender Schärfe
geschwängert, als er ihnen vor Augen führte, wie unklug es war, sich auf eine
Schmuggelgeschichte einzulassen, die die Tausend Schnitte zur Folge haben konnte
oder die Beschlagnahme sämtlicher Besitztümer, den Verlust von Rang und
Privilegien ganzer Familien und die sichere Gewißheit, daß verarmte Ehefrauen,
Konkubinen und Kinder zum Auktionsblock geführt und als Sklaven verkauft werden
würden.
    »Wenn ihr Trottel schon
stehlen müßt, warum stehlt ihr dann nicht etwas, das sich lohnt ?« donnerte der Heilige. »Dabei könntet ihr vielleicht, ohne
es zu beabsichtigen, Gutes tun und zur Wiederherstellung der Moral beitragen!
Hört mir zu, meine widerspenstigen Kinder, dann führe ich euch zum Licht .«
    Und er führte sie zum
Licht, während ich erst ungläubig, dann entsetzt, dann so tief verzweifelt, wie
ich es nie zuvor gewesen war, lauschte. Die Vorstellung des Himmlischen
Meisters war, den Geisterplan des Konfuzius zum Leben zu erwecken.
    Die Barbaren unter meinen
Lesern müssen wissen, daß die Toten in einem zivilisierten Land einen
gewaltigen Einfluß haben. Die Lebenden sind viel zu sehr damit beschäftigt, am
Leben zu bleiben, um auf irgend etwas sonst

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