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Die Insel der Mandarine

Die Insel der Mandarine

Titel: Die Insel der Mandarine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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vielleicht
erwähnen, daß der Heilige im Verlauf dieser unglaublichen Ansprache keine Spur
von Altersschwäche zeigte. I in (.egenteil, noch nie hatte ich ihn so kraftvoll
und klar erlebt. Als er seinen Vortrag schließlich beendete und der Käfig
dunkel wurde, wandte ich mich hilflos an Meister Li.
    »Meister, hat er vielleicht
so eine Art Schlaganfall erlitten ?« fragte
    Selten habe ich den alten
Mann mit so sorgenvoller Miene gesehen wie in diesem Augenblick. Während er
nachdachte, kaute er wütend auf den Spitzen seines schütteren Bartes herum,
dann sagte er, indem er sie ausspuckte: »Ich habe noch nie von einem
Schlaganfall gehört, der einen arthritischen Hundertjährigen in die Lage
versetzt, wie ein tibetanischer Schneeleopard über den Rasen zu springen. Nein,
Ochse, es ist etwas weitaus Dramatischeres als eine geistige Verwirrung
geschehen, und die Folgen könnten geradezu unvorstellbar sein .«
    Er hatte mit überkreuzten
Beinen vor dem Käfig gesessen. Jetzt sprang er auf und blickte zu dem sengenden
messingfarbenen Himmel hoch. Der Gelbe Wind strich wie eine gewaltige Hand über
den Horizont; gierige lange Finger griffen nach der blutroten Sonne, die sich
in einem pulsierenden Nebel dem Untergang zuneigte - ich hatte gar nicht bemerkt,
wieviel Zeit vergangen war. Feine Sandkörner legten sich auf Zweige und
Blätter, fauchend und knirschend: Eine riesige, unsichtbare Katze, die am
Kratzbaum spielerisch ihre Krallen ausfuhr.
    »Etwas Dramatisches liegt
in der Luft«, wiederholte Meister Li. Dann schüttelte er sich und drehte sich
zu mir um. »Mein Sohn, es gibt nur wenige wissenschaftliche Gebiete, die so
trostlos sind wie die Theologie, aber es könnte wichtig sein, die Lehre von den
Katastrophen, der Hauptbeitrag der Han-Dynastie zu diesem Thema, in Betracht zu
ziehen. Sowohl das I-ching als auch das Huai-nart-tzu versichern,
daß Naturkatastrophen nicht vom Himmel verursacht werden, sondern daß der
Himmel sie zuläßt. Wenn die Menschen die Ordnung der Dinge mutwillig stören,
weigern sich die Götter, helfend einzugreifen, und die Natur muß sich,
gewöhnlich auf gewaltsame Weise, selbst von dem Gift reinigen. Wenn dabei die
Unschuldigen ebenso wie die Schuldigen leiden - nun, die Menschen lernen eben
nur etwas, wenn man es ihnen mit der Axt ins Hirn drischt .«
    Er hob den Käfig auf, band
ihn wieder am Gürtel fest und zog sein weites Gewand darüber.
    »Nach den Worten von Wirt
Sechsten Grades Tu glauben die Ureinwohner des Landes, daß Neid beinahe eine
Sonnenwendkatastrophe herbeigeführt hätte, die nur durch die Acht Gelehrten
Herren verhindert wurde«, sagte er gedehnt. »Wir wissen zu gut, daß entweder
Neid oder ein unglaublich begabter Imitator immer noch unter uns ist und irgend etwas im Schilde führt. Das Problem mit den
chinesischen Mythen ist, daß man nie weiß, wo der Mythos aufhört und die
Realität beginnt. Der Erhabene Jadekaiser wird nicht erfreut sein, wenn ihm der
Führer der Taoisten ein Gesuch zur Verbreitung des Geisterplanes zukommen läßt,
aber das allein dürfte nicht...«
    Er verstummte, dann befahl er mir, mich zu bücken
und ihm auf meinen Rücken zu helfen.
    »Wir können nichts weiter
tun, als diese Liste der beteiligten Mandarine durchzugehen und das schwächste
Glied herauszufinden. Vielleicht mußt du dem Kerl die Knochen brechen, mein
Sohn. Aber wie dem auch sei, mit seiner Hilfe wird es möglich sein, den Rest
der Bande ins Gefängnis zu bringen«, sagte der Weise grimmig. »Zurück zur Stadt
zum Einäugigen Wong, und zwar schnell.«
    »Ja, Meister«, sagte ich
und preschte davon wie ein Rennpferd.
    20
    Im Weinlokal des Einäugigen
Wong sammelte Meister Li ein paar Müßiggänger um sich und schickte sie mit dem
Auftrag los, alle Mandarine und Eunuchen, die auf der Liste standen,
aufzuspüren. Dann ging er durch die Hintertür hinaus in die Fliegengasse, wo dichtgedrängt
windschiefe Häuser aneinanderlehnten. Verbindungswege verliefen in alle
Richtungen, und bevor hier ein Gerichtsvertreter den Weg in ein Haus gefunden
hat, ist der Gesuchte höchstwahrscheinlich bereits in Tibet.
    »Die Vorfahren des Wiesels
waren Ureinwohner«, erklärte Meister Li. »Ich bezweifle zwar sehr, daß er viel
zu dem hinzufügen kann, was wir von Wirt Tu erfahren haben, aber ich würde ihn
gern befragen. Weißt du, wo er wohnt ?«
    Ich war glücklich, einen
Beitrag leisten zu können. »Immer links herum«, sagte ich. »Ob Ihr es glaubt
oder nicht, Ihr werdet nicht dort

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