Die Insel der roten Erde Roman
»Polly und Lance räumen schon die Möbel weg, damit wir Platz zum Tanzen haben, und ich werde Harmonium spielen.«
»Au ja!«, rief Rose begeistert, und ihre Geschwister brachen ebenfalls in Jubel aus.
»Sarah hat uns ein paar französische Lieder beigebracht, Mrs Ashby«, sagte Sissie aufgeregt. »Vielleicht können Sie uns auf dem Harmonium begleiten.«
»Aber gern! Also, bis nachher. Ich erwarte euch in ungefähr einer Stunde. Ich weiß, dass ihr morgen in die Schule müsst, es wird also nicht zu spät.«
Als Edna nach Hause ging, sah sie im Geiste die beiden jungen Frauen vor sich, wie sie wenige Minuten zuvor nebeneinander im Salon gestanden hatten. Äußerlich sahen sie sich ziemlich ähnlich: Beide waren schlank, mit langem dunklem Haar, braunen Augen und hellem Teint, und sie waren etwa gleich alt. Damit endeten die Ähnlichkeiten aber auch schon. Amelia war ein wenig linkisch und nicht sonderlich elegant. Edna hatte sie nie auch nur ein einziges Wort Französisch sprechen hören, und aus einer Unterhaltung, die sie im Postamt zufällig belauscht hatte, wusste sie, dass sie keine gute Tänzerin war. Sarah hingegen besaß Anmut und Eleganz; sie sprach mehrere Sprachen und hatte Evans Kindern das Tanzen beigebracht. Sie war so, wie Edna sich ihr Mündel vorgestellt hatte. Die beiden Frauen waren das Gegenteil von dem, was man erwartet hätte, als hätten sie die Rollen vertauscht …
Edna blieb abrupt stehen. Ein abenteuerlicher Gedanke durchzuckte sie. Konnte es wirklich so sein? War es möglich, dass ihr vermeintliches Mündel in Wahrheit die Zuchthäuslerin war und die Identität der echten Amelia angenommen hatte? War es möglich, dass Evans Farmhelferin in Wahrheit Amelia Divine war? Sie besaß alle Eigenschaften, die Camilla so sehr an ihrer Tochter geschätzt hatte. »Nein, ausgeschlossen!«, sagte Edna laut und schüttelte den Kopf. Die Vorstellung war absurd. Edna konnte nicht glauben, dass jemand so niederträchtig war und den Umstand ausnutzte, dass ein anderer sein Gedächtnis verloren hatte, um in dessen Rolle zu schlüpfen.
Andererseits würde das manches erklären …
Edna war plötzlich schrecklich aufgeregt. Sie nahm sich vor, noch an diesem Abend die Wahrheit herauszufinden, koste es, was es wolle!
33
Edna schenkte ihrem Mündel als Erstes ein großes Glas Sherry ein. Die junge Frau hatte zweifelsohne einen Schock erlitten, doch Edna fragte sich, ob nicht vielleicht mehr hinter ihrer seelischen Anspannung steckte. Der furchtbare Verdacht, der auf dem Nachhauseweg in Edna aufgestiegen war – dass nämlich eine Zuchthäuslerin namens Sarah Jones die Identität ihres Mündels angenommen hatte –, ließ sie nicht mehr los.
Sie überlegte fieberhaft, wie sie die Wahrheit herausfinden könnte. Ihr blieb keine Zeit, sich mit Charlton zu besprechen; sie musste sich selbst irgendetwas überlegen.
Als Evan und die Kinder eintrafen, waren Gabriel und Lance schon da. Lance hatte Gabriel bereits von dem Vorfall an der Klippe erzählt. Gabriel war außer sich gewesen: Es hätte genauso gut seine geliebte Sarah sein können, die um ein Haar in den Tod gestürzt wäre. In Evans Beisein konnte er natürlich nicht seine Erleichterung darüber zum Ausdruck bringen, dass ihr nichts zugestoßen war. Doch Amelia sah ihm an, dass er bis ins Innerste aufgewühlt war, als er ihr mit ernster Miene sagte, wie viel Glück sie gehabt hätten – und sie liebte ihn dafür umso mehr.
Als Edna die Kurbel des Harmoniums drehte, führten Evans Töchter stolz vor, was sie gelernt hatten. Evan schaute zu; er habe zwei linke Füße, behauptete er, und keine Ahnung, wohin er sie beim Tanzen setzen solle. Aus Respekt vor ihm wagte Gabriel nicht, seine geliebte Sarah aufzufordern. Es war Evan, der ihn schließlich dazu ermunterte.
Edna fiel auf, wie gut die Mädchen tanzen konnten. Sollte sich ihr Verdacht, dass Evans Farmarbeiterin in Wirklichkeit ihr Mündel war, bewahrheiten? Edna brannte darauf, die Wahrheit herauszufinden. Da sie von ihrem Bekannten in Hobart erst in einigen Wochen eine Antwort auf ihren Brief erhielte, musste sie sich selbst etwas einfallen lassen.
Die Kinder sangen französische Lieder. Während Evans Farmhelferin sie dirigierte und jeden Vers mitsang, blieb Ednas Mündel stumm. Auf Ednas Frage, ob sie nicht auch ein Lied kenne, antwortete sie, sie könne keinen klaren Gedanken fassen; nach dem schrecklichen Erlebnis vom Nachmittag sei sie viel zu
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