Die Insel der roten Mangroven
dem sichersten Platz fortgelockt, an dem sie je gewesen war.
»Was ist jetzt, Bobbie, willst du nicht mal gucken?« Rivers, der Zweite Kanonier, kam Bonnie unwissentlich zu Hilfe. Siehatte den Männern vorhin die Aufgabe gegeben, ihre Kanonen auf einen bestimmten Felsen auf der Insel zu richten, um ihre Zielgenauigkeit anschließend zu korrigieren. »Inzwischen hätten wir das Eiland da schon dreimal versenken können!«
»Untersteht euch!«, scherzte Sanchez. »Die Insel ist unsere einzige Hoffnung, das hier lebend zu überstehen. Dann lass ich dich mal wieder an deine Arbeit, Bobbie …«
Bonnie musste sich zwingen, ihm zuzulächeln. »Du … bist aber nicht sauer, oder?«, fragte sie. Sie wusste, dass das albern war und kaum zu ihrer Rolle passte. Bobbie musste langsam erwachsen werden. »Weil ich nicht wie du gestimmt habe?«
Sanchez schüttelte den Kopf, jetzt wieder völlig ernst. »Nein, Kleiner. Wenn wir morgen diesen Kahn entern und im Gold schwimmen, dann kann ich dir dazu ja nur gratulieren. Und wenn nicht … dann landen wir eh alle in der Hölle. Was soll ich dir da noch übel nehmen?«
Bonnie verbrachte eine unruhige Nacht in ihrer Hängematte neben Jefe, der sich in der seinen eingerollt hatte wie in einen Kokon. Er schlief wie ein Kind. Eine bevorstehende Schlacht hatte ihn noch nie beunruhigt. Doch Bonnie wusste, dass der Kapitän und der Quartiermeister in ihren Verschlägen ihre Angelegenheiten ordneten. Ein paar der Mannschaftsmitglieder beteten – zu welchem Gott auch immer –, und viele wanderten ruhelos über das Deck und hielten Wache, obwohl in der Nacht eigentlich nicht mit dem Auftauchen des Schiffes zu rechnen war.
Bonnie dagegen dachte keinen Herzschlag lang über die Isabella Santa nach. Am Tag zuvor war es ihr noch wichtig gewesen, aber nach dem Gespräch mit Sanchez war es ihr beinahe egal, ob sie reich wurde oder nicht – und ob sie am Leben bleiben oder sterben würde. Am Abend hatte sie stundenlang aufs Festland geschaut, fast sehnsüchtig. Dies war Hispaniola, wenn auch der spanische Teil. In wenigen Stunden konnte man per Schiff inCap-Français sein. Und selbst wenn man zu Fuß unterwegs sein würde – es musste möglich sein, über die Grenze nach Saint-Domingue zu kommen.
Bonnie dachte vage darüber nach, an Land zu schwimmen. Aber dann sagte sie sich, dass sie ihre Kameraden nicht verraten durfte. Keiner der anderen Kanoniere hätte den Felsen auf der Insel auch nur halbwegs exakt getroffen. Wenn jemand die Isabella mit einem oder zwei Schüssen außer Gefecht setzen konnte, dann nur sie. Später würde sie dann mit Jefe reden. Vielleicht hatte Sanchez ja doch etwas missverstanden – oder sie konnte Jefe den Unsinn noch ausreden, ein gemeinsames Leben mit Deirdre Dufresne anzustreben. Vielleicht gab es ja auch eine Alternative, die Jefe reizte. Bonnie dachte unglücklich daran, tatsächlich die Mermaid zu kaufen, wenn der Captain sich zur Ruhe setzte. Wenn sie ihnen gehörte … Hatte es nicht auch weibliche Freibeuter gegeben? Eine davon hieß sogar fast wie sie: Anne Bonny. Vielleicht konnte sie offen als Frau neben Jefe zur See fahren?
Aber nutzte das alles etwas, wenn er sich nichts aus ihr machte? Verzweifelt klammerte sich Bonnie an die Worte Dr. Dufresnes: … Er hat dir immerhin das Leben gerettet … Also bedeutest du ihm auch etwas!
Bonnie grübelte stundenlang, aber die entscheidende Überlegung ließ sie nicht zu. Sie konnte sich nicht eingestehen, dass Dr. Victor Dufresne, der Mann, auf dessen Urteil sie so sehr vertraute, genauso betrogen worden war wie sie selbst …
KAPITEL 2
D ie Isabella Santa passierte das Inselchen vor der Bucht am nächsten Tag um die zehnte Stunde. Sie musste im Morgengrauen im Hafen von Santo Domingo abgelegt haben. Die Mannschaft der Mermaid war längst bereit für ihr riskantes Manöver. Auch der Wind schien auf ihrer Seite, er trieb das Piratenschiff unter vollen Segeln blitzschnell aus der Deckung auf die Seite der Fregatte zu – und die Piraten feuerten gleich aus fast allen Rohren. Bonnie, die auf die Segel des spanischen Schiffes gezielt hatte und den Hauptmast mit ihrer Spezialmunition genau traf, eilte gleich weiter an die nächste geladene Kanone und richtete sie auf den Bug des Schiffes aus. Im letzten Moment überlegte sie es sich jedoch anders und schoss das Schiff nicht leck, sondern zielte auf eine der gewaltigen Kanonen des Gegners, die sie an Deck erkannte. Auch Rivers und die anderen
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