Die Insel der roten Mangroven
sein. Du sagst doch auch, es habe ausgesehen, als hätte er dich erkannt.«
Nora puderte ihr Gesicht. »Zumindest schien er sich irgendwie an mich zu erinnern. Mit dir war da nichts?«
Doug zuckte die Schultern. »Er war vier Jahre alt«, gab er zu bedenken. »Noch drei Monate jünger als Deirdre. Da ist es normal, wenn er sich nicht an mich erinnert, er hat mich ja auch nur kurz gekannt. Und du … du sahst anders aus in Nanny Town. Und nach all den Jahren … Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass Máanu viel getan hat, um die Erinnerung an uns wachzuhalten. Aber das alles lässt sich ja leicht klären. Wir brauchen ihn nur zu fragen.«
Doug schüttelte Puder aus seiner Perücke, und Nora musste schon wieder niesen. Diesmal lachte sie nicht über das Ungeschick ihres Mannes, sondern wedelte sich nur Luft zu.
»Und dann?«, fragte sie ernst. »Was machen wir, wenn er Jefe ist? Kaufen wir ihn frei?«
Doug schürzte die Lippen. »Das ist die Frage. Eben deshalb habe ich ihn auch noch nicht angesprochen. Ich will keine falschen Hoffnungen wecken.«
Nora sah in ihrem Spiegel, wie unsicher ihr Mann war, und auch er verfolgte ihr Mienenspiel. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie es kaum schaffte, Lippenrot aufzutragen.
»Wir … wir müssen es doch eigentlich. Er sollte kein Sklave sein. Wir haben Máanu versprochen … wir haben Nanny versprochen …« Sie sprach nicht weiter.
Doug trat zu ihr und zog ihren Kopf an seine Hüfte. »Nora, er war damals ein Kind. Wir haben versprochen, für ihn zu sorgen, und das haben wir getan. Für ihn und für Máanu. Er war frei, und er hatte alle Chancen. Was er dann aus seinem Leben gemacht hat …«
»Es ist seine eigene Schuld, willst du sagen?«, fuhr Nora ihn an. »Aber das ist es nicht! Er ist Sklave, weil er schwarz ist!«
Doug schnaubte. »Wenn er weiß wäre, hätten sie ihn gehenkt«, bemerkte er hart. »In diesem Fall kann er seine Hautfarbe also als Glücksfall betrachten. Und die Sklaverei als Strafe. Wenn man ihn als Weißen begnadigt hätte, wäre er auch in einGefangenenlager gekommen. Die Franzosen haben Inseln, auf denen es nicht gerade gemütlich zugeht. Und denk mal an das, was Victor über die kleine Bonnie erzählt hat. Die wollte ein Geschäft mit ihm aufbauen, in Cap-Français. Es war schon alles geregelt. Stattdessen rannte Caesar … oder Jefe wieder weg und schloss sich erneut den Piraten an. Da hat er die zweite Chance vertan. Was macht er jetzt, wenn wir ihm die dritte geben? Nutzt er sie endlich, oder rennt er geradewegs nach Cap-Français, schnappt sich seine Bonnie und stürzt sich in das nächste gefährliche Abenteuer?«
Nora seufzte. Es war schwierig. Aber sie konnte Jefe einfach nicht mit so nüchternen Augen sehen wie Doug – und Victor, der ihrem Mann wahrscheinlich zugestimmt hätte. Er hatte den Fortnams gestanden, dass er eigentlich ganz froh gewesen war, den großen Schwarzen auf dem Sklavenmarkt nicht mehr gefunden zu haben. Was die nächste Frage aufwarf: Sollten sie Victor sagen, dass der junge Mann hier war? Sollten sie ihm die ganze Geschichte erzählen? Und Deirdre … sollte man ihr, die sich an ihren Halbbruder vielleicht gar nicht mehr erinnerte, davon berichten?
Deirdre saß wie auf Kohlen und stocherte lustlos in ihrem Essen herum, während ihr Tischherr lauthals darüber schwadronierte, wie sich der Zuckerverbrauch in Europa womöglich noch steigern ließe. Er schwärmte von Chocolaterien, man sah ihm die Vorliebe für süße Kleinigkeiten an. Monsieur Gachets Bauch sprengte fast seine Seidenweste. Die Unterhaltung langweilte Deirdre, aber wahrscheinlich hätte sie auch keine Ruhe gefunden, wenn es um eines ihrer Lieblingsthemen gegangen wäre. All ihre Gedanken seit dem Wettritt kreisten nur noch um ihren Caesar.
Der große Schwarze war in diesem Sklavenquartier! Sie hatte ihn wiedergefunden. Und nun musste sie eine Möglichkeitfinden, zu ihm zu gelangen, sie musste … Deirdre streifte Victor mit einem Seitenblick und spürte einen Anflug von Zweifel. Wollte sie das wirklich wieder anfangen? Sie wusste doch, wohin ein weiteres Treffen mit Caesar führen würde! Und sie konnte sich lebhaft vorstellen, was Amali sagte, wenn sie erneut damit begann, ihren Mann zu betrügen. Das alles war unklug, es war falsch, sie ging ein unkalkulierbares Risiko ein. Aber die magische Anziehungskraft, die der Schwarze für sie hatte, war stärker.
Als die Tafel endlich aufgehoben wurde und die Damen sich zum
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