Die Insel der roten Mangroven
nach dem Sonntagsgottesdienst auf Nouveau Brissac zu Doug.
Nora hatte die Messfeier genutzt, um ihre Tochter und deren Zofe eingehend zu beobachten. Der Gottesdienst fand, wie auch auf Jamaika üblich, im Freien im Sklavenquartier statt – das war einfacher, als alle Sklaven zum Haupthaus zu beordern. Die Aufseher konnten hier zudem leichter ein Auge auf die Männer und Frauen halten. Die Teilnahme an der Messe war für die Schwarzen Pflicht, auch das nicht anders als in englischen Kolonien. In der Regel standen die Sklaven auf einer Seite in der prallen Sonne, wobei die Leute der Dufresnes es angenehmer hatten, da im ganzen Dorf Bäume standen. Die Weißen hatten Sitzplätze im Schatten, wo ihnen schwarze Kinder oder Haussklaven Luft zufächelten.
Auch Amali stand hinter Deirdre und hielt ihren Sonnenschirm, doch zwischen den jungen Frauen schien eine Eisschicht zu liegen. Wenn Nora sich nicht sehr irrte, hatten die beiden sich am Abend zuvor heftig gestritten. Victor hatte aufgrund eines Notfalls in Cap-Français bleiben müssen, Amali und Deirdre hatten die Räume des Ehepaars also für sich – und Deirdre hatte wohl keine Ausrede gefunden, sich den Vorwürfen der Zofe zu entziehen.
»Aber was soll sie denn wissen?«, fragte Doug desinteressiert. Er hatte sich beim Gottesdienst gelangweilt und freute sich auf das gute Mittagessen. »Und jetzt komm mir nicht wieder mit diesem ominösen Liebhaber. Deirdre war auf Roche aux Brumes als Gesellschafterin ihrer schwangeren Freundin. Wen soll sie denn da empfangen haben? Oder hattest du das Gefühl, eswäre irgendetwas zwischen ihr und einem dieser fürchterlichen Zuckerrohrpflanzer aus der Gegend?«
»Jedenfalls hat sie am Tag nach dem Essen mit den Zuckerrohrpflanzern angefangen, sich höchst merkwürdig zu benehmen«, zischte Nora. »Und sieh sie dir jetzt doch an! Sie hat sich verändert. Sie ist …«
»Sie hat abgenommen«, bemerkte Doug.
Nora seufzte. »Auch das kann ein Indiz für kurze Nächte sein«, bemerkte sie. »Aber vor allem … Herrgott, ich sehe doch, wenn mein Kind verliebt ist! Dieses Leuchten, das von ihr ausgeht, sie berührt beim Gehen ja kaum den Boden. Und die Rastlosigkeit, die Unruhe …«
»Das gehört zur Verliebtheit?«, neckte Doug.
»Darin manifestiert sich das schlechte Gewissen!«, gab Nora zurück. »Und ich bin nahezu sicher, Deirdre wollte gestern Nacht noch weg, um den Mann zu treffen, sobald sie hörte, dass Victor nicht mehr kommt. Amali hat sie bestimmt nicht gelassen. Das würde den Ärger erklären.«
Doug lachte. »Na schön, du kleine Spionin. Dann kann ich mich ja darauf gefasst machen, dass du Deirdre heute den ganzen Tag nicht aus den Augen lässt. Was machen wir? Reiten wir aus? Vielleicht zu jener geheimnisvolle Plantage, auf der ihr Liebhaber lauert? Nora, womöglich ist es gar Gérôme!«
Nora schüttelte verärgert den Kopf. »Unsinn. Und du irrst dich. Ich werde Deirdre sehr wohl aus den Augen lassen, zumindest soll sie das denken. Ich bekomme heraus, was da vorgeht, verlass dich drauf!«
Nora war der Wahrheit mit ihren Vermutungen tatsächlich sehr nahe gekommen. Amali hatte Deirdre gleich mit ihrem Verdacht konfrontiert, als sie ihrer ansichtig wurde. Und Deirdre wäre nur zu gern zurück nach Roche aux Brumes geritten, um Jefe auch in dieser Nacht noch zu treffen. Dem stand allerdings nicht nurAmalis vehementer Protest, sondern auch Deirdres Furcht vor einer Entdeckung im Sklavenquartier entgegen. Ihr Geliebter hätte ja nichts von ihrem Besuch gewusst, sie hätte sich hinein-, nicht er sich hinausschleichen müssen, und das traute sie sich ohne seine Führung nicht recht zu.
Nun jedoch fieberte die junge Frau seinem Besuch auf Nouveau Brissac entgegen. Wieder ein viel zu großes Risiko – und so weit, den Sklaven gleich zum Herrenhaus ihrer Schwiegereltern zu bestellen, mochte Deirdre nun doch nicht gehen. Stattdessen hatten die beiden sich im Wirtschaftsbereich verabredet, in einem der Schuppen, in denen die Kaffeebohnen nach der Entfernung des Fruchtfleisches trockneten. Am Sonntag arbeitete hier niemand. Wenn die beiden erst da waren, würden sie sicher ungestört sein. Jefe musste allerdings sowohl an den Aufsehern der einen als auch an denen der anderen Plantage vorbei.
Deirdre machte sich kurz nach dem Mittagessen auf den Weg. Zu Fuß, um kein Aufsehen zu erregen. Sie trug ein leinenes hellgrünes Nachmittagskleid und war nur locker geschnürt, um sich leicht an- und ausziehen zu
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