Die Insel der roten Mangroven
Fisch und bunte Kleidung. Von einer nahen Kirche – zu Deirdres Verwunderung war sie nicht aus Holz, sondern aus Stein gebaut und mit leuchtend hellem Marmor verkleidet – hallte Glockenklang herüber. Die Menschen hier schienen entspannt und fröhlich zu sein.
Gérôme hielt sich allerdings indigniert ein Seidentuch vor Mund und Nase, als er durch das Marktgewirr schritt. Es gab hier kaum Weiße, dominierend waren Mulatten, deren bunte Kleidung die Szenerie noch farbenfroher wirken ließen. Deirdre wäre am liebsten gleich geblieben und hätte für ihren neuen Haushalt eingekauft, aber das ging natürlich nicht. Sie freute sich schon auf einen Erkundungsgang am nächsten Tag.
Inzwischen wurde das Schiff entladen, der Maat öffnete das Zwischendeck, und Deirdres schwarzer Anhang gesellte sich wieder zu ihnen – auf dem Schiff war es nur den Zofen und Leibdienern erlaubt gewesen, ihre Quartiere zur Arbeit zu verlassen. Nafia wirkte noch ziemlich blass, und Lennies runde Augen waren schreckgeweitet, aber an Land erholten sich die beiden rasch. Theoretisch hätte Lennie auch gleich seine Aufgaben als Stallknecht übernehmen können, in der Praxis erwies er sich jedoch als hoffnungslos unfähig, die aufgeregte Alegría aus ihrem Verschlag im Bauch des Schiffes nach draußen zu führen. Deirdre wollte schon selbst nach dem Führstrick greifen, und schließlich übernahm es dann Victor, die Stute zu beruhigen. Das ging natürlich nicht, ohne einen tadelnden Blick seines Bruders auf sich zu ziehen.
»Habt ihr den Bengel nicht als Pferdeknecht mitgenommen?«
Gérôme wies auf Lennie. Er sprach mit beißendem Spott in der Stimme und in so raschem Französisch, dass es Deirdre schwerfiel, alles zu verstehen. Bislang hatte Victors Bruder sich ihr gegenüber rücksichtsvoll verhalten und sehr langsam geredet, ebenso wie die anderen französischsprachigen Passagiere auf dem Schiff. Aber jetzt vergaß er das, und Deirdre wurde schlagartig klar, wie viel sie noch zu lernen hatte.
»Unser Lennie ist nun mal nicht seefest.« Victor lachte, nicht bereit, sich die Freude über seine Heimkehr verderben zu lassen. »Und das Pferd meiner Frau konnte es ja auch kaum erwarten, vom Schiff zu kommen. Insofern haben die zwei sicher eine Menge gemeinsam, doch bei dem einen äußert es sich in Agonie, beim anderen in extremer Unruhe. Medizinisch ist beides verständlich, und als Therapie empfehle ich: Lasst sie einen Tag lang nicht aufeinander los! Aber jetzt Spaß beiseite. Gérôme, siehst du hier irgendwo eine Mietdroschke? Wir könnten natürlich auch zu Fuß gehen, das Haus ist jedoch etwas abgelegen …«
Über die Lage des Stadthauses hatte es wohl auch Meinungsverschiedenheiten zwischen Victor und seinem Vater gegeben. Victor hatte sich am liebsten nah am Hafen, direkt im Herzen der Stadt, ansiedeln wollen, das empfand seine Familie jedoch als plebejisch. Jacques Dufresne verhandelte stattdessen um ein Grundstück nahe dem Wohnsitz des Gouverneurs, was wiederum Victor kategorisch ablehnte. Eine Ansiedlung im Viertel der Allerreichsten kam für ihn nicht infrage. Schließlich hatte man sich auf einen Bauplatz nördlich des Stadtzentrums geeinigt, einem noch wenig bebauten Bereich, der Wald dort war gerade erst gerodet worden. Das Grundstück lag nah der Küste, war also auch vom Hafen aus leicht zu erreichen, wie Victor in seinem Brief schon geschrieben hatte. Auf die Dauer würde sich Cap-Français zweifellos über dieses Neubauviertel hinaus ausdehnen. Victor nahm an, dass sein Haus in wenigen Jahren mitten in der Stadt liegen würde. In der Nachbarschaft siedelten sich schon Geschäftsleute und auch ein paar Handwerker an, die es zu bescheidenem Wohlstand gebracht hatten.
Gérôme schüttelte unwillig den Kopf und träufelte neues Parfüm auf das Tüchlein, das er sich direkt wieder vors Gesicht hielt, um die Gerüche des Hafens zu überdecken.
»Eine Mietdroschke!« Seine Stimme klang verächtlich. »Du hast zu lange in Europa gelebt, Victor. Du solltest dich daran erinnern, dass du hier ein Dufresne bist.« Gérôme sah sich kurz um und wies dann knapp mit dem Kinn auf eine elegante, offene Kutsche, die in einer Seitengasse wartete. »Ich habe den Wagen natürlich kommen lassen …«
Deirdre erspähte eine Art Wappen auf den dunkelrot lackierten Türen der Chaise, zwei ineinander verschlungene Buchstaben: DF für Dufresne. »Woher wusstest du denn, wann wir ankommen?«, fragte sie verwundert.
Victor, der seine Lippen
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