Die Insel Der Tausend Quellen
der Anlage der neuen Stadt Kingston schien man dieser Gefahr jedoch bereits Rechnung getragen zu haben. Die Straßen wirkten breit und die Häuser gepflegt, es lag weniger Unrat herum als in London.
Ruth Stevens gefiel ihre neue Heimat trotzdem nicht. Sie begann sofort bei der Ausschiffung, sich über die Hitze und Feuchtigkeit zu beschweren.
»Himmel, es scheint, als atme man Wasser«, seufzte sie.
Ihr schweres dunkles Kleid aus Tuch war aber auch wenig für das Klima geeignet. Nora dagegen dankte im Geiste Lady Wentworth für die kundige Beratung. Schon in London hatte sie sich leichte Seidenkleider schneidern lassen, und jetzt folgten ihr die bewundernden Blicke der Händler und Hafenarbeiter, als Elias sie über eine provisorische Rampe an Land führte.
»Für die Pferde muss man die aber verstärken«, bemerkte Nora.
Ihr Gatte schien ihr kaum zuzuhören. Er schritt mit ihr den Steg hinunter, als gingen sie in London zum Tanz – sichtlich stolz darauf, der Gesellschaft von Kingston seine Neuerwerbung vorzuführen.
Nora beschloss, sich nicht darüber zu ärgern. Die neue Welt, in die sie trat, war auch viel zu aufregend, um Gedanken an Elias zu verschwenden. Natürlich unterschieden sich die Arbeiten im Kingstoner Hafen kaum von denen, die sie an den Londoner Docks oft genug beobachtet hatte. Die Vielfalt der ausund eingeladenen Waren imponierte Nora nicht, wohl aber die Vielfalt der Menschen! Allein die Hautfarben der Hafenarbeiter schwankten zwischen fast schwarz und milchkaffeebraun. Sie arbeiteten mit nackten Oberkörpern, meist barfuß, nur bekleidet mit weiten weißen Leinenhosen. Die Aufseher waren meist Weiße, aber oft auch braun gebrannt – und Nora erschrak, als sie in ihren Händen wirklich Peitschen sah! Die meisten schienen sie nur pro forma bei sich zu haben, und Nora wollte sich schon beruhigen, aber dann sah sie doch einen Schlag auf den Rücken eines der schwarzen Arbeiter niedersausen. Das Geräusch ging Nora durch Mark und Bein. Nicht vergleichbar dem fast unhörbaren Anschlagen, wenn Peppers die Fahrpeitsche gelegentlich auf das gut gepolsterte Hinterteil eines seiner Pferde klatschen ließ. Hier dämpfte den Schlag ja auch kein Fell, die Peitsche traf auf nackte Haut.
Zwischen Arbeitern und Aufsehern wanderten ungerührt Händler umher, deren Aufzug – Perücke, Jambot und Kniehose – dem von Noras Vater glich. Kapitäne und Schiffsoffiziere fachsimpelten miteinander. Melonenverkäufer – auch sie meist schwarz – fuhren mit Obstkarren herum und boten Erfrischungen an. Mannschaftsmitglieder, die freihatten, gingen vergnügt an Land, wobei ihnen junge Frauen in bunten Kleidern verheißungsvoll zulächelten. Einige waren fast hellhäutig mit nur etwas volleren Lippen, dunklen Augen und dunklem Haar, andere tiefschwarz, breitnasig und kraushaarig. Nora wusste, dass dies Hafenhuren waren und dass sie eigentlich den Blick abwenden sollte, aber sie konnte nicht umhin, das Treiben mit allen Sinnen zu genießen. In der Luft lag der Geruch von Gewürzen und Früchten, aber auch von Fäulnis, ranzigem Fett und Rauch, der von den Garküchen aufstieg. Die Hafenkneipen waren zu den Docks hin offen, die Zecher lungerten darin und davor herum – statt des in London allgegenwärtigen Gins wurde hier vor allem Rum ausgeschenkt. Auch sein Aroma mischte sich in die Hafengerüche.
»Nora! Hörst du nicht?«
In ihrer Faszination für die bunte Welt der Kingstoner Docks hatte Nora überhört, dass Elias das Wort an sie richtete. Sie merkte auch jetzt erst, dass er mit einem der Händler sprach. Nora lächelte pflichtschuldig, als er ihr den Mann vorstellte, vergaß seinen Namen aber sofort. Umso interessanter fand sie den Jungen, der ihm auf dem Fuß folgte. Sie konnte kaum glauben, wie schwarz die Haut eines Menschen sein konnte! Der Junge wirkte auch nicht verschwitzt und überhitzt wie sein Herr. Seine Haut war trocken und glänzte samtig in der Sonne. Nora lauschte, als der Händler sich ihm zuwandte und ihm offensichtlich einen Auftrag gab, aber sie konnte im allgemeinen Lärm um sie herum nicht verstehen, was er zu ihm sagte. Der Diener verbeugte sich daraufhin jedoch ergeben und setzte sich in Trab, weg vom Hafen.
»Mr. Frazer hat die Freundlichkeit, Lord Hollister von unserer Ankunft benachrichtigen zu lassen«, bemerkte Elias zu Nora. »Hollister ist ein Geschäftsfreund, er wird uns einen Wagen schicken, und wir werden diese Nacht in seinem Stadthaus verbringen.«
Nora nickte, fast ein
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