Die Insel Der Tausend Quellen
Gespanne. Die beiden Schimmel vor dem Wagen tanzten unruhig umher, und Nora hätte sich wesentlich sicherer gefühlt, wenn ihr Kutscher die Zügel in der Hand behalten hätte. Immerhin lenkte sie das von der traurigen Prozession der Sklaven ab, die jetzt in Richtung Stadt geführt wurden. Nora fragte nicht, wohin genau, sie würde das früher oder später sowieso herausfinden. Jetzt interessierte sie sich mehr für ihren Kutscher.
»Der … Junge … ›gehört‹ Lord Hollister?«, fragte sie leise. »Ich meine, ist er auch …«
»Die Neger gehören alle irgendwem«, antwortete Elias gelassen, aber dann fuhr ein Grinsen über sein Gesicht. »Und hier sieht man gleich, dass Hollister sich den hier nicht geliehen hat.«
Nora überlegte kurz, woran er das erkannte, doch das war nun wirklich nicht ihre dringendste Frage.
»Aber … aber er lässt ihn doch frei herumlaufen«, sprach sie weiter. »Hier … mit dem Gespann … Er könnte es einfach nehmen und wegfahren.« Nora lächelte dem Jungen auf dem Bock zaghaft zu, der eben nach hinten blickte. Anscheinend nahm er die Pflichten des herrschaftlichen Kutschers jetzt ernster und schien sich vergewissern zu wollen, dass seine Passagiere bequem saßen und keine weiteren Wünsche hatten.
Elias lachte. »Das könnte er sehr wohl. Aber spätestens beim Verlassen der Stadt würde man ihn nach seinem Passierschein fragen. Und dann bekäme er ärger … großen ärger …«
»Lord Hollister würde ihn … schlagen?«, hakte Nora nach.
»Das wäre das Mindeste«, meinte Elias. »Vor allem würde er ihn degradieren. Und glaub mir, das Letzte, was der will, ist als Feldnigger auf die Plantage. Als Kutscher hat er dagegen ein Leben wie ein König. Nein, Nora, Hausnigger laufen nicht weg, oder jedenfalls nur sehr, sehr selten. Aufpassen muss man mehr auf die Kerle in den Plantagen …«
»Alles gut, Backra?«, erkundigte sich der Kutscher besorgt.
Nora nickte ihm zu. »Alles bestens«, beruhigte sie ihn. »Wie ist …?«
Sie wollte den Jungen nach seinem Namen fragen, aber sie wusste nicht, wie sie es formulieren sollte. Sagte man ›Sie‹ oder ›du‹? In England hätte sie einen so jungen Diener wahrscheinlich noch geduzt. Aber dann durchfuhr es sie eiskalt. Hatten diese Menschen überhaupt Namen?
»Lady? Missis?« Der Junge fragte ängstlich nach.
Nora holte Luft.
»Ich glaube, die Missis möchte wissen, wie du heißt«, half Elias ihr weiter. Nora verspürte fast Dankbarkeit.
Der Junge grinste. »Jamie, Missis, zu Ihren Diensten!« Er strahlte über das ganze Gesicht, nachdem er die Formalität offensichtlich richtig angebracht hatte.
Nora lächelte erleichtert. Aber ob der Junge wirklich von Geburt an Jamie geheißen hatte? Nannten heidnische Familien ihre Kinder James, Paul und Mary?
»Der schon«, meinte Elias. Nora stellte ihm die Frage, als Jamie konzentriert mit dem Kutschieren beschäftigt war und nicht hinhörte. »Der kommt nicht aus Afrika, der ist Mulatte. Siehst du doch.«
»Mulatten sind … Mischlinge zwischen Negern und Weißen?«, vergewisserte sich Nora. »Wie … wie kommt denn das zustande, ich meine … man heiratet doch nicht seinen Sklaven, oder?«
Elias fasste sich an die Stirn und wandte sich dann kopfschüttelnd ab. »Nora, stell dich nicht dümmer als du bist!«, rügte er scharf. »Denk lieber einmal nach, wie das zustande kommt. In dem Moment, da es um Sklaven geht, scheint sich dein Verstand ja außer Kraft zu setzen! Wobei Ehen zwischen Schwarzen und Weißen selbstverständlich ausgeschlossen sind. Was für eine Idee!«
Nora wollte schon heftig erwidern, dass der Gedanke der Sklaverei wohl über den Verstand eines jeden normal denkenden Menschen gehen müsste. Aber dann hielt die Kutsche vor dem Domizil der Hollisters, einem hübschen, weiß-orange gestrichenen Holzhaus mit geschnitzten Verzierungen und vielen verspielten Erkern und Türmchen. Nora fand es sehr anheimelnd, aber als sie kurz darauf Lord Hollister kennenlernte, packte sie erneut das kalte Entsetzen. Der Mann zeigte sich gastfreundlich und jovial, aber mit einem Blick auf ihn wurde ihr schlagartig klar, wie zumindest Jamie zustande gekommen war. Abgesehen von der Hautfarbe und der etwas breiteren Nase war der junge Sklave seinem Herrn wie aus dem Gesicht geschnitten. Nora konnte nur hoffen, dass sie auf ihrer eigenen Plantage nicht ähnliche Überraschungen erwarteten.
Elias begrüßte Lord und Lady Hollister höflich, wobei Nora den Eindruck gewann, dass die
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