Die Insel Der Tausend Quellen
heller und dunkler Bernstein … du hast recht, es ist zu schade, es mit Puder zu bestäuben.
In den letzten Wochen auf dem Schiff tat Nora dann allerdings genau das. Sie schminkte sich, wenn sie herausging, und besann sich auch auf ihren Sonnenhut, zu dessen Anschaffung Lady Wentworth in London dringend geraten hatte. Auf ihren vorherigen Versuch, sich eine von Ruth Stevens’ Hauben zu leihen, die das Gesicht ebenfalls beschatteten, hatte Elias fast genauso heftig reagiert wie auf den Verzicht auf den Sonnenschirm.
»Keine Dienstbotenkluft, Nora! Ich bringe eine Lady nach Cascarilla Gardens, ich will, dass du dich dementsprechend kleidest und zeigst!«
Nora dachte wieder an das Gefühl vor und bei ihrer Hochzeit: Es hatte sie nicht getrogen. Elias Fortnam hatte eine repräsentative Puppe gewollt, keine Frau aus Fleisch und Blut. Aber sie hatte dem Handel zugestimmt. Also würde sie nun ihr Bestes tun, um ihren Mann zufriedenzustellen.
Und dann, nach mehr als sechzig Tagen auf See, kam Jamaika in Sicht. Der Kapitän hatte seine Passagiere auf Deck gerufen, um einen ersten Blick auf die Insel zu werfen, und Nora hatte eigentlich sofort hinaufstürmen wollen. Dann reichte allerdings ein scharfer Blick von Elias, um sie zu zähmen. So rasch es ging, schminkte sie sich, puderte ihr Haar, schlüpfte in einen Reifrock und setzte ihren Hut auf.
Sie war verärgert und fühlte fast ein bisschen Verbitterung, als sie Elias endlich ins Freie folgte, aber dann warf sie den ersten Blick auf die Insel und spürte nur noch Verzauberung. Niemals, niemals zuvor hatte sie so etwas Schönes gesehen, sie konnte ihre Begeisterung kaum bezähmen. Das Schiff schob sich in sanften Bewegungen über leichte Wellen. Das Meer war an diesem Tag sattgrün, und die in der Sonne glitzernden Wellen schwappten sanft gegen einen schneeweißen Strand. Unmittelbar dahinter erhob sich üppiges Grün, die versprochenen Mangrovenwälder. Dichter Dschungel, verheißungsvoll und beängstigend, und doch seltsam bekannt. Nora hätte all das umarmen können, sie wollte lachen und singen – allerdings erwartete Elias sicher, dass sie Würde bewahrte. Der schaute schon mehr als missbilligend auf Ruth Stevens, die ungläubig dastand und ihrem Entsetzen Ausdruck verlieh.
»Aber das ist ja Dschungel, John! Das ist ja nur Strand und … und Bäume … Bestimmt gibt es Eingeborene … Ich … ich hatte gedacht, Kingston wäre eine Stadt …«
Der Reverend versuchte seine Frau zu beruhigen, während Elias in ruhigem Stolz auf Nora blickte, die aufrecht und schön wie eine Königin ihr neues Reich in Augenschein nahm. Elias Fortnams Puppe lächelte distanziert, aber die Seele von Simon Greenboroughs Liebster tanzte. Sie tastete nach dem Anhänger, den sie seit ihrer Abreise ständig trug. Und plötzlich war ihr Geliebter bei ihr, sie meinte, ihn wieder fühlen, sein Glück spüren zu können.
Nora hatte es geschafft. Sie hatte ihre Insel gefunden und seinen Geist nach Hause gebracht.
KAPITEL 5
D as Anlanden auf der Insel Jamaika vollzog sich natürlich nicht so wie die Ankunft in dem Paradies aus Noras Träumen. Weder paddelten sie Eingeborene an Land, noch ließ der Kapitän Boote herunter in die Bucht ihrer Fantasie. Stattdessen fuhr das Schiff einfach daran vorbei. Ein Küstenabschnitt nach dem anderen zeigte seine Schönheit, und Nora hätte überall anlanden mögen. Der Schoner steuerte jedoch Kingston an, einen Naturhafen, um den herum man eine Stadt angelegt hatte. Nach einem Brand, der die ursprüngliche Siedlung zerstört hatte, war die Stadt planmäßig wieder aufgebaut worden und rasch zum Wirtschaftszentrum aufgestiegen. Sie stellte die Hauptstadt Spanish Town jetzt schon in den Schatten.
Nora erinnerte sich noch, wie Simon sowohl von Kingston als auch von Spanish Town gesprochen hatte. Genau hier hätte er sich eine Dependance von Thomas Reeds Handelshaus vorstellen können, und Elias bestätigte Nora, dass viele europäische Import-Export-Kaufleute ein zweites Standbein auf Jamaika unterhielten. Der Hafen von Kingston war groß und bevölkert, die Häuser der Stadt wirkten bunt und verspielt. Nora wusste allerdings, dass dieser Eindruck täuschen konnte. Viele Städte in der Karibik galten als Lasterhöhlen, und nicht nur Brände, Hurrikans und Erdbeben bedrohten die größeren Gemeinwesen, sondern oft auch Seuchen, die sich im feuchtwarmen Klima in Ballungszentren schnell verbreiteten, nachdem irgendein Seemann sie eingeschleppt hatte. Bei
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