Die Insel der verlorenen Kinder
Hausaufgaben am Gartentisch und beobachtete, wie Peter auf die Büchsen schoss, Clem ihm danach auf den Rücken klopfte und
Guter Schuss, mein Junge
sagte.
Rhonda überlegte, wie sie ihn aufmuntern könnte, wie sie ihn trösten und ihm sagen könnte, dass alles bald wieder in Ordnung sein würde – dass Aggie gesund und Daniel heimkommen würde. Aber jedes Mal, wenn sie den Mund zum Sprechen aufmachte, um die im Kopf geübten Worte zu sagen, kamen diese ihr so vollkommen unpassend und albern vor, dass sie sie nicht über die Lippen brachte. Die Worte blieben ihr im Hals stecken wie eine dicke, hässliche, nutzlose Kröte. Und als sie schließlich all ihren Mut zusammennahm, zu ihm ging und etwas sagte, kam nur ein «Möchtest du ’ne Cola?» heraus – und darauf schüttelte er einfach nur den Kopf.
In der Nacht machte Lizzy nicht ins Bett, lag aber auch nicht einfach still da. Sie stöhnte, heulte und faselte Unsinn. Sie rief nach etwas oder jemandem – das Wortwar verschwommen, klang für Rhonda aber ganz wie
Peter.
Rhonda rüttelte Lizzy wach.
«Der ist draußen», sagte sie, um Lizzy zu trösten, deren Augen vor Angst geweitet waren. Lizzy packte Rhonda und grub ihr die Fingernägel in den Arm.
«Peter ist gleich da draußen im Zelt», erklärte ihr Rhonda.
Lizzy legte den Kopf wieder aufs Kissen und schlief ein.
Rhonda stand auf und sah durchs Fenster Peter mit Tacks Gewehr dastehen. Sie beobachtete anschließend, wie er den Rand des Gartens abschritt und dann zu seinem Zelt zurückkehrte. Aus ihrem Kinderzimmerfenster sah sie zu, wie er sich vor dem Zelt aufbaute, als stünde er Wache – das Gewehr fest in Händen und den Blick in die Ferne gerichtet. Dieser Blick, mit dem er auf irgendeinen eingebildeten Feind wartete, wirkte aber nicht tapfer, sondern irgendwie resigniert.
s?
25. Juni 2006
Als Rhonda in Peters und Tacks Zufahrt einbog, fielen ihr als Erstes die beiden Mädchen auf, die im Garten spielten. Da war Suzy mit ihrem schweren Epileptikerarmband aus Silber, das in der Sonne schimmerte, und mit hübschem, fast weißblondem Haar. In der Hand trug sie ein rotes Spielzeugschäufelchen und einen Eimer. Das andere Mädchen war kleiner und schien nur aus Knien und Ellbogen zu bestehen. Das dunkle Haar war zu Zöpfen geflochten. Während Rhonda die beiden beobachtete, warf das dunkelhaarige Mädchen etwas in ein Loch. Suzy schaufelte es mit Sand zu. Das andere Mädchen beugte sich vor und flüsterte Suzy etwas ins Ohr.
Ernie?
«He, Suz.» Rhonda sprang aus ihrem Wagen. «Was treibt ihr so?» Rhonda betrachtete das dunkelhaarige Mädchen: Sommersprossen und braune Augen. Sie sah dem Mädchen auf dem Flugblatt mit der VERMISS T-Überschrift sehr ähnlich; doch jenes Mädchen war ja, wie Warren berichtet hatte, aus Laura Lees Wagen gefallen.
«Nichts», antwortete Suzy.
Rhonda nickte. «Ist dein Dad drinnen?»
«Ja», antwortete sie.
Rhonda ging die Vortreppe hoch und klopfte. Tack machte auf. Rhonda trat instinktiv einen Schritt zurück, da sie nicht vergessen hatte, wie zornig Tack bei ihrer letzten Begegnung gewesen war.
«Rhonda», sagte Tack mit steinerner Miene. «Wir dachtenschon, du kommst nicht mehr.» Rhonda konnte Tacks Gesicht nicht entnehmen, ob sie darüber froh oder enttäuscht gewesen wäre.
«Ich bin aufgehalten worden», erklärte Rhonda. Sie hörte Stimmen aus dem Wohnzimmer. Die von Peter und die einer Frau.
«Das Mädchen, das mit Suzy im Garten spielt … Wer ist das?», fragte Rhonda.
«Komm rein», bat Tack und legte Rhonda sanft die Hand auf den Rücken.
Rhonda zuckte zusammen. Nein, da war kein Messer. Einfach nur die Hand. Tack führte sie zum Wohnzimmer, schob sie fast dorthin. Halb erwartete Rhonda, dass man sie in dem Zimmer mit einer Überraschungsparty empfangen würde. Leute würden aus den Ecken springen, die letzten Wochen würden sich als Scherz entpuppen – ein Streich, den man ihr gespielt habe. Warren würde sie im Hasenkostüm empfangen und so etwas sagen wie:
Siehst du, Rhonda, der Schein trügt immer.
Selbst Crowley würde da sein, hinter einem Vorhang hervorlugen und ihr verschwörerisch zuzwinkern.
Als Rhonda ins Wohnzimmer schaute, fühlte sie sich plötzlich wie ein Ballon, aus dem alle Luft auf einmal entweicht. Es gab keine Party. Da waren nur Peter und eine Frau, die Rhonda auf Anhieb erkannte.
«Ronnie», sagte die Frau. «Mein Gott, Ronnie.»
«Lizzy?», brachte Rhonda mühsam heraus. Trotz ihres fragenden Tons hatte sie nicht
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