Die Insel der verlorenen Kinder
einen Schwertkampf mit Peter ausfocht.
«Er war sauber rasiert. Er hatte früher immer diesen mächtigen Schnauzbart – wie ein Walross –, aber irgendwann in jenem Sommer muss er ihn abrasiert haben. Im Fotoalbum meines Vaters gibt es Bilder, die ihn in jener Nacht zeigen.»
«Ich habe die Fotos gesehen. Ihre Eltern sagen, Sie hätten ein Video von der Aufführung des Stücks?»
«Ja. Das habe ich mir vor anderthalb Wochen von ihnen ausgeliehen.»
«Könnte ich es vielleicht ein paar Tage lang haben?», fragte Crowley.
«Aber gerne», sagte Rhonda. Sie stand auf und ging ins Wohnzimmer. Das Video fand sie im Regal unter dem Fernseher – dort hatte sie es an dem Morgen liegen lassen, an dem sie und Warren es, auf dem Sofa miteinander kuschelnd, angeschaut hatten. Mit einem Seufzen tat sie die Erinnerung ab, nahm die Kassette und kehrte zu Crowley zurück. Als sie wieder in die Küche trat, sah sie, dass er aufgestanden war und in den Papieren schnüffelte, die auf der Arbeitsplatte lagen – es waren alte Einkaufslisten und Rezepte.
«Können Sie sich sonst noch an irgendetwas Ungewöhnliches in jener Nacht erinnern?»
«Eigentlich nicht. Nach der Aufführung gab es eine Art Feier. Die Familien aus den Ferienhäuschen unten am See feierten mit, weil ihre Kinder in dem Stück aufgetreten waren. Wir waren alle im Garten und aßen Würstchen und Frikadellen. Aggie – Peters und Lizzys Mutter – war ein bisschen betrunken und setzte versehentlich den Tisch mit dem Essen in Brand. Das war wohl das Ungewöhnlichste, was in jener Nacht passierte.»
«Und kurz nach Einbruch der Dunkelheit war die Feier dann zu Ende. Die Leute gingen heim. Was haben Sie im Anschluss an die Feier gemacht, Miss Farr?»
«Ich … ähm, bin mit einigen Kindern, die im Stück mitgespielt hatten, in den Wald gegangen.»
Crowley blätterte in seinem Notizbuch.
«In den Krankenhausunterlagen steht, dass Sie und Peter Shale gegen zweiundzwanzig Uhr in der Ambulanz waren und genäht werden mussten. Alle, mit denen ich geredet habe, sagen, dass Sie vier, Peter Shale, Lizzy Shale, GretaClark und Sie selbst während oder kurz nach der Party in den Wald gegangen sind und die Bühne niedergerissen haben. Gab es dafür einen bestimmten Anlass?»
Rhonda schwirrte der Kopf. Sie ging die paar Erinnerungsfetzen durch, die ihr vom Abreißen der Bühne geblieben waren, aber vor ihrem geistigen Auge verschwamm alles. Sie kamen ihr nicht mehr wie richtige Erinnerungen vor. Sondern nur noch wie eine Geschichte, die sie so viele Male erzählt hatte, dass sie längst nichts mehr mit der eigentlichen Wirklichkeit zu tun zu haben schien. Wenn sie die Geschichte erzählte, war es, als erinnerte sie sich an einen Traum. An den Traum, an dessen Ende sie und Peter die gleichen Narben hatten.
«Ich weiß nicht recht», räumte sie ein. «Wir wussten alle irgendwie, dass es unser letztes Stück war. In jenem Sommer hatte sich alles verändert. Peter und Tack waren ein Paar geworden. Lizzy hatte sich von uns entfremdet. Das Einreißen der Bühne war wohl ein symbolischer Akt.»
«Haben Daniel und Ihr Vater sich an jenem Abend gestritten? Über Geld? Weil Daniel wieder Geld von Ihrem Vater leihen wollte?»
Rhonda erinnerte sich an jenes frühere Gespräch an Peters Geburtstag, als Daniel ihren Vater hatte anpumpen wollen und sie und Peter das Ganze aus ihren verschlossenen Särgen heraus mit angehört hatten.
«Das ist ungefähr die Geschichte, die auch Clem, Aggie und Justine berichtet haben.» Crowley nickte, nachdem Rhonda ihre Erinnerungen an jenes Gespräch zwischen Daniel und ihrem Vater wiedergegeben hatte.
«Sie haben mit Aggie geredet?», fragte Rhonda erstaunt.
Crowley nickte. «Ein Detective in Maryland hat sie gestern Abend befragt.» Crowley fuhr sich mit der Hand durch das kurze Haar, blickte wieder in sein Notizbuch und fuhr fort: «Daniel hatte Spielschulden, und Ihr Vater hatte das Gefühl, ihm schon oft genug aus der Patsche geholfen zu haben. Es klingt so, als hätte Ihr Vater enorm viel für Daniel getan. Entspricht das Ihren Erinnerungen?»
«Ich weiß nicht recht. Wohl schon. Ich meine, Daniel hatte immer Pech. Er hatte ständig neue Geschäftsideen, aber keine hat je eingeschlagen. Und irgendwie hatte er immer bei irgendjemandem Schulden. Jedenfalls hatte ich diesen Eindruck, aber ich war damals nur ein Kind.»
Wieder dachte sie an die von Daniel gebastelten Flügel – und wie Peter auf dem Schuppendach gestanden hatte,
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