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Die Insel der verlorenen Kinder

Die Insel der verlorenen Kinder

Titel: Die Insel der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer McMahon
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gemieden. Sie wollte nicht hören, welche Anschuldigungen gegen Pat und Warren erhoben wurden. Eine Nachricht, die sie zufällig mit angehört hatte, machte ihr jetzt noch zu schaffen. Bei der Durchsuchung von Pats Büro hatte die Polizei einen blutverkrusteten kleinen Kinderturnschuh gefunden, der schon jahrzehntealt war. Pat hatte Vögelchens Schuh all die Jahre aufgehoben, eine schauerliche Erinnerung an ihren Verlust.
    Rhonda hörte, wie Peter am anderen Ende des Hörers atmete.
    «Wo wurde die Leiche gefunden?», fragte sie.
    Sofort war sie sich böse, weil sie Ernies Namen nichtgenannt und sie so in eine Art Sache verwandelt hatte. Doch sie konnte es nicht ungeschehen machen.
    «Bei uns im Wald, Ronnie. Unter der alten Bühne.»
    Es folgte eine lange Pause. Rhonda holte tief Luft. Sie hörte ein sonderbares Knacken in der Leitung. Als sie einen Schmerz im Kopf spürte, fuhr sie instinktiv mit der Hand über die Narbe. In diesem Moment kam ihr eine ganz verrückte Idee. Sie dachte, dass vielleicht gerade der alte Lumpenmann ausgegraben worden sei. Und zwar in einem so zersetzten Zustand, dass man ihn auf den ersten Blick für eine richtige Leiche gehalten hatte. Vielleicht war das ja die Leiche, die gefunden worden war – ihre gestaltgewordenen Kindheitsängste, mit Steinen beschwert, als könnte dieses Gewicht sie für immer unten halten.
    «Das kann nicht sein», entfuhr es Rhonda. Es war mehr ein Keuchen als ein deutlich artikulierter Satz.
    «Ich möchte, dass du jetzt sofort ins Auto steigst und auf direktem Weg hierherkommst, Ronnie. So schnell du kannst. Wir müssen miteinander reden, bevor du mit jemand anderem sprichst, insbesondere mit der Polizei, okay?»
    «Mit der Polizei?»
    «Ja, die wird mit dir reden wollen.»
    «Aber ich verstehe nicht», sagte Rhonda mit einer ganz dünnen, sonderbaren Stimme. Es war die Stimme einer Elfjährigen.
    «Das weiß ich. Deshalb musst du ja kommen. Versprich mir, dass du sofort losfährst.»
    «Das verspreche ich», sagte Rhonda, und die Worte kamen mühelos über ihre trockenen Lippen.
     
    Rhonda legte auf und wollte ihr Versprechen in die Tat umsetzen. Doch als sie die Tür öffnete, traf sie Crowley, der die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufkam.
    «Hat Warrens Zustand sich verschlechtert?», fragte sie. Ihre letzte Begegnung mit Crowley war vor einer Woche an Warrens Bett gewesen.
    «Warren? Nein. Dem geht es gut. Er ist aus dem Krankenhaus entlassen worden und jetzt im Strafvollzug. Pat ebenfalls. Man hat sie eine Weile im Krankenhaus beobachtet, weil sie kein Wort gesprochen hat, seit sie von Ihnen den Schlag mit dem Stein erhalten hat. Die Ärzte sagen aber, es gibt keine körperlichen Ursachen – sie will einfach nicht reden.»
    Rhonda nickte.
Selbstgewählte Stummheit,
dachte sie. Sie klapperte mit dem Schlüsselbund in ihrer Hand.
    «Haben Sie kurz Zeit, Miss Farr?», fragte Crowley.
    «Ich wollte gerade gehen.»
    «Es dauert nicht lange. Können wir in Ihre Wohnung gehen?»
    Sie bot ihm eine Tasse Kaffee aus der Kanne an, die sie soeben von der Wärmeplatte genommen hatte. Anschließend saßen beide zusammen am Tisch und rührten Milch und Zucker in den lauwarmen Kaffee.
    «Erzählen Sie mir vom Sommer 1993.   Von jenem August, in dem Daniel Shale verschwand. Sie haben damals ein Stück aufgeführt –
Peter Pan
, nicht wahr?»
    Rhonda war von dieser Frage völlig verblüfft.
    «Äh, ja. Ich war die Wendy.»
    Crowley saß Rhonda gegenüber, machte sich bei ihrer Unterhaltung Notizen und sah beim Fragen immer wiederin sein schwarzes Büchlein. Aber die Fragen, die er ihr stellte, kamen ihr sinnlos vor.
    «Ich weiß nicht, was das mit   …»
    «Beantworten Sie einfach meine Fragen, Miss Farr», unterbrach Crowley sie. «Und jetzt nehmen Sie mich bitte einmal in jenen Sommer mit. Erzählen Sie mir von dem Stück. Und vom letzten Mal, als Sie Daniel Shale sahen.»
    «Daniel? Hm, wenn ich mich recht erinnere, habe ich ihn das letzte Mal am Abend der Vorstellung gesehen.»
    «Richtig», sagte Crowley und blätterte in seinem Büchlein. «Die Aufführung war, wie alle sich erinnern, gegen neunzehn Uhr dreißig zu Ende, und dann gab es eine kleine Party im Freien. Und dann   … Können Sie sich an irgendetwas Ungewöhnliches erinnern, was an jenem Abend vorgefallen wäre? Mit Daniel?»
    Rhonda gab sich alle Mühe. Sie dachte an die Fotos in Clems Album, die alle Beteiligten nach der Aufführung zeigten. Lizzy, die auf Daniels Schultern thronte. Daniel, der

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