Die Insel der verlorenen Kinder
fest entschlossen zu beweisen, dass man mit ihnen tatsächlich fliegen konnte.
«Wer hat Sie in die Ambulanz gefahren?», fragte Crowley.
«Mein Vater und Aggie.»
«Ihre Mutter ist nicht mitgekommen?»
«Ich kann mich nicht an sie erinnern. Sie wird wohl mit Lizzy zu Hause geblieben sein.»
«Und Daniel … Wo war der, als Sie genäht wurden?»
«Ich habe keine Ahnung. Nicht im Krankenhaus, denke ich. Er muss mit meiner Mutter und Lizzy zurückgeblieben sein.»
Rhonda strich sich über die Narbe an der Stirn. Sie dachte daran, dass Peter die gleiche Narbe hatte. Daran, wie das Blut ihr übers Gesicht gelaufen war und welche Angst sie gehabt hatte. Sie beide waren ganz voll Blut gewesen. UndLizzy auch, denn die hatte versucht, ihnen zu helfen. Sie hatte ihre Piratenjacke ausgezogen und sie Rhonda um den Kopf gewickelt. Alle hatten schrecklich geweint. Rhonda konnte sich nicht einmal erinnern, wie sie nach Hause zurückgekommen waren – und auch nicht an die Fahrt zum Krankenhaus. Ihre Erinnerung setzte erst wieder ein, als sie im selben Raum mit Peter war und der Arzt den Vorhang zwischen ihnen zuzog, bevor er sie nähte.
«Vielen Dank für Ihre Hilfe, Miss Farr.» Crowley klappte sein Notizbuch zu und stand auf, um zu gehen. «Nur noch eins, wenn Sie erlauben», fügte er hinzu und fischte in seiner Jackentasche nach einer kleinen Tüte, die er herauszog und ihr zum Betrachten hinhielt. «Was können Sie mir dazu sagen?»
Der rosafarbene Gegenstand aus Kunststoff war voller Risse und verdreckt, aber sie erkannte ihn auf der Stelle wieder. Früher einmal hatte er in ihrem Oberkiefer gesessen.
«Meine Zahnspange!», sagte sie schließlich.
Crowley nickte. «Die haben wir neben der Leiche in der Grube gefunden.»
Rhonda schwieg eine Weile und überlegte. Sie dachte an den Tag, an dem sie und Peter zusammen in der Grube gesessen und er sie gebeten hatte, die Spange aus dem Mund zu nehmen. Der Gedanke, dass ihre Spange dort neben der Leiche der kleinen Ernie Florucci gelegen hatte, ließ sie erschauern.
«Ich habe mich unten in der Grube immer umgezogen», erklärte Rhonda. «Wahrscheinlich hab ich die Spange am Abend der letzten Aufführung dort gelassen. Auf der Bühne habe ich sie nie getragen. Wahrscheinlich habe ich sie dortunten aufbewahrt. Mein Gott, ich dachte, die wäre für immer weg.»
«Danke für Ihre Zeit.» Crowley klappte das Buch zu. «Sie waren uns sehr behilflich.»
«Aber ich verstehe nicht», sagte Rhonda. «Was hat das alles mit Ernie Florucci zu tun?»
«Mit Ernie?»
«Ja, mit der Leiche, die Sie im Wald gefunden haben.» Crowley blickte verwirrt drein, und Rhonda fuhr ein bisschen gereizt fort: «Es war doch Ernie, oder? Sie haben sie gefunden.»
«Nein, wir haben Ernies Leiche nicht im Wald gefunden. Jedenfalls noch nicht, wir suchen nach wie vor nach ihr. Es gibt ausgedehnte Waldgebiete rund um den See, und Warren hat uns leider kaum irgendwelche Anhaltspunkte gegeben.»
«Und worum geht es hier dann?»
Rhonda dachte wieder an den alten, ausgestopften Lumpenmann. An ihre Ängste – sie hatten sie auf Zettel gekritzelt, diese wieder und wieder gefaltet und zu guter Letzt wie kaputte Papierkraniche ins Loch geworfen. Sie erinnerte sich noch schemenhaft an das, was sie selbst auf ihren Zettel geschrieben hatte. Aber Lizzy und Peter, was hatten die aufgeschrieben?
«Die gefundene Leiche ist als Daniel Shale identifiziert worden. Erste Untersuchungen zeigen übereinstimmend auf, dass er ungefähr zum Zeitpunkt seines Verschwindens ermordet wurde. Möglicherweise am Abend nach der letzten Aufführung des Stücks. Die Überreste seiner Kleidung entsprechen den Fotos von jenem Tag.»
Rhonda hatte ein ganz merkwürdiges Sausen im Kopf, als wäre plötzlich alle Luft aus ihrer Wohnung abgesaugt worden.
«Ermordet? Wie denn?»
«Ja, ermordet», bestätigte Crowley. «Dem vorläufigen Bericht zufolge hat er ein Schädeltrauma erlitten, und zwar durch Gewalteinwirkung mit einem stumpfen Gegenstand.»
s?
4. September 1993
Peter war mit Tacks Gewehr draußen und übte, Büchsen von der Steinmauer zu schießen, die den Garten einfasste. Clem gab ihm Tipps, stellte die Büchsen auf und ließ Peter sogar ein paarmal mit seiner nachgemachten Bürgerkriegsmuskete schießen.
Rhonda wusste nicht, wie sie mit Peter darüber reden sollte, was seinen Eltern zugestoßen war. Es kam ihr verkehrt vor, darüber zu reden, und ebenso verkehrt, nicht darüber zu reden. Sie machte ihre
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