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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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rieb sich die Augen, biss sich auf die Lippe, aber die Pünktchen blieben bestehen. Sie verdichteten sich, wurden zu einer soliden Masse.
    »Ach, Ramón, führ mich nicht hinters Licht, nicht jetzt. Schaff mir diese Erscheinung aus den Augen und schick mir Kraft, damit ich springe, ehe mich vor lauter Schmerz wieder die Feigheit einholt.«
    Die Kinder waren in ihrer Welt versunken, lärmten, klammerten sich an Alicias Beine, zogen an ihr. Wie immer, wollten sie durch das Loch in den Felsen einsteigen, sie wollten eine Kröte fangen, sie wollten wissen, ob die Fledermäuse rauchten. Aber sie stand einfach nur da, reglos, taub, stumm und wie benommen, ohne aus der Halluzination aufzuwachen. Das graue Ding bewegte sich auf die Insel zu, indem es die Wellen durchbrach und den Nebel teilte.
    »Ramoncito!«, rief sie ihren Sohn. »Komm mal her. Sag mir, was du da siehst. Aber nicht lügen, keine Geschichten erfinden. Sag mir nur, was du siehst.«
    »Ein Schiff, Mama.«
    Es war da, vor ihnen, im Meer. Metallisch und eindeutig und sah genauso aus, wie das in den Pupillen ihres Mannes, wenige Stunden vor seinem Tod.
    »Mach ihm Zeichen, mein Sohn!«, wagte Alicia zu bitten, doch ihr versagte die Stimme, die brüchig war wie Glas.
    Der Junge schwenkte die Arme. Alicia wagte nicht, es ihm gleichzutun, sie wollte nicht in die Falle gehen. Stocksteif stand sie da, ohne sich zu rühren, nur ihr Herz, das galoppierte. Sie würde keine Zeichen geben. Sie würde nicht rufen, sie würde nicht eine Erscheinung um Hilfe anflehen. Es war nur ein Traum, sie musste aufwachen. Wenn schon alles verloren war, dann wollte sie wenigstens ihren Verstand behalten. Ihre eigene Regel kam ihr in den Sinn: Es gibt nur die Dinge, die wir sehen und anfassen können. Das Schiff da konnte man nicht anfassen, also war es nicht vorhanden. Ramoncito brüllte:
    »Hier sind wir! Hiiiiiiier!«
    Die beiden Mädchen kamen herbeigelaufen, um festzustellen, was los war, und gerieten beim Anblick des Schiffes außer Rand und Band. Ramón zog den Lumpen aus, der ihm als Lendenschurz diente, und wedelte damit in der Luft. Die Mädchen taten es ihm nach. Sie ließen sich von einer irren Raserei überwältigen, rannten in alle Richtungen, riefen um Hilfe, schwenkten wie besessen die Fetzen.
    »Hilfe!«, überrascht vernahm Alicia ihre eigene Stimme.
    Dieser erste Schrei war eine Tür, die sich in ihrer Kehle auftat und die seit Jahren zurückgehaltenen, unzerkaut heruntergewürgten Hoffnungen herausließ. Jetzt fing auch sie an zu laufen, schrie, lachte, betete, küsste die Kinder.
    »Diesmal ist es echt, Ramón! Diesmal ist es echt!«, wiederholte sie und wandte das Gesicht nach oben, mehr zur eigenen Versicherung, als um ihren Mann zu informieren.
    Das Schiff kam jetzt näher und sie konnte sein Abzeichen sehen: die nordamerikanische Flagge. Eine stechende Panik durchbohrte sie, und sie stand plötzlich da wie versteinert. Und was, wenn es sie nicht sah, wenn es abdrehte? Es war kein mexikanisches Schiff, weshalb die Wahrscheinlichkeit groß war, dass es einfach in einiger Entfernung kreuzte. Außer es gelang ihnen, sich bemerkbar zu machen.
    »Lasst uns ganz laut schreien, damit sie uns hören!«, befahl sie den Kindern, und sie selbst legte ihre ganze Seele in jeden Schrei.
    In ihrer Erregung riss sich Alicia das heilige Laken vom Leib, das sie umgewickelt hatte. Nackt wie ihre Kinder, mit Ángel auf dem Rücken und voller Lebenswillen schwenkte sie das große weiße Tuch in der Luft.
    »Los, Tuch, streng dich an!«, verlangte sie. »Mach, dass sie uns sehen!«

Kanonenb oot USS York town, auf hoher See
    – 1916 –
    Am Mittwoch, den 18. Juli, morgens um viertel nach sechs, in einer Finsternis, die den Eindruck erweckte, als wäre es noch mitten in der Nacht, stieg Kapitän H.P. Perril auf seine Kommandobrücke. Ein milchiger Vorhang versperrte ihm die Sicht und im ersten Augenblick vermochte er nicht zu unterscheiden, ob das Meer diesig war oder seine erst halbwachen Sinne ihm den Blick vernebelten. Das Geschaukel und die schwüle Luft hatten niemand an Bord der Yorktown gut schlafen lassen. Einige Männer hatten es an Deck versucht und sich unter freien Himmel gelegt, bis die aufgestauten Platzregen niederprasselten, und sie von dort vertrieben. Der Kapitän selbst war nur oberflächlich eingenickt und erst gegen vier Uhr in der Frühe in Tiefschlaf gefallen, kurz bevor um sechs Uhr das Wecksignal ertönte, wie jeden Morgen.
    Er nahm langsam Kontakt mit der Welt

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