Die Insel der Witwen
letzten Sack blieb er vor ihr stehen, nahm die Mütze ab, hielt sie in seinen Kringelhänden. Er wartete. Keike stierte auf seine großen Nasenlöcher, die nach oben gebogen waren. Sie bot ihm keinen Tee an. Sie wollte nicht, dass er länger blieb. Er stand noch eine Weile herum. Seine herabhängenden Mundwinkel zuckten.
»Ich hole sie morgen früh wieder ab.« Seine Stimme klang gepresst.
Endlich verschwand er. Keike bebte vor Anspannung.
Es war im letzten Mai passiert. Sie hatte am Fischgarten einige Löcher im Zaun ausgebessert. Dann war sie zum Ufer zurückgelaufen. Als sie sich den Dünen näherte, spürte sie ein Surren im Blut, so, als würde ein Mückenschwarm durch ihre Adern flirren. Genauso wie vor einem Gewitter. Sie sah sich nach allen Seiten um, bemerkte aber nichts. Außer Vogelstimmen, Wind und Meer, das in der Ferne rauschte, fiel ihr nichts auf.
Sie ging weiter, ihre Schritte, das Wattgurgeln in den Ohren. Plötzlich flogen hinter einer Düne Silbermöwen auf. Sie kreischten Warnschreie in den Himmel. Sie blieb stehen und beobachtete die Vögel. Sie stürzten hinter einer Düne in die Tiefe. Sie wollten etwas vertreiben. Sie mied die Düne, wählte einen anderen Weg, um nach Hause zu gehen. Ihr Blut surrte immer noch. Ihr war nicht wohl. Sie beeilte sich, lief schneller als sonst. Plötzlich hörte sie ein schabendes Geräusch, danach rieselte Sand von der Düne neben ihr. Ocke schoss hervor. Er baute sich breitbeinig vor ihr auf.
Er grinste.
»Was willst du, Ocke?« Sie ließ ihre Stimme hart klingen.
»Ich will einen Kuss.«
»Mach, dass du verschwindest!«
Ocke blieb stehen. Seine Kringelhände ballten sich zu Fäusten.
Sie wollte an ihm vorbeigehen. Er versperrte ihr den Weg. Sie stieß ihn mit dem Ellenbogen beiseite. Er packte sie am Arm.
»Ocke, lass das!«
Er riss sie an sich. Sie wehrte sich. Er warf sie in den Sand, wälzte sich über sie und presste seinen Mund auf den ihren. Sie spürte seinen glühenden Dorn durch die Kleidung hindurch, versuchte, sich wegzurollen. Er griff ihr unter den Rock. Da dröhnte es in ihr, als ob eine gewaltige Woge an einen hohen Felsen schlug, als ob ein Wirbelsturm durch ihren Kopf zog, der tobte und schnaubte wie ein Drache.
Sie wusste nicht wirklich, was geschehen war. Ocke sprang schreiend auf und verschwand. Sie hielt das blutige Messer in der Hand. Sie hatte Ocke mit dem Messer verletzt. An mehr erinnerte sie sich nicht.
Keike starrte auf den Entenberg.
Stine und Medje kamen. Sie saßen bis spät in die Nacht auf ihren Schemeln und rupften. Die Enten mussten gerupft werden, solange sie noch warm waren. Sie mussten aufpassen, dass die Haut nicht einriss. Es gab zwei Pfennig Lohn pro Ente. Auf der Brust nahmen sie zunächst nur die oberen Federn weg, damit sie die darunter sitzenden Daunen gesondert pflücken und aufbewahren konnten. Sie durften die Federn behalten. Sie würden sie reinigen und später als Füllung für Bettdecken verkaufen.
Keine von ihnen liebte das Entenrupfen. Sie arbeiteten still, ohne zu plaudern oder zu singen. In Keike brütete die Vergangenheit. Warum hatte sie Harck geheiratet? Warum hatte sie sich der Mutter nicht widersetzt?
Keike spürte die niedergedrückte Starre, in der sie Jahre verbracht hatte. Sie fuhr ihr in alle Glieder. Ihr Leben mit Harck war frostig wie eine Winternacht gewesen. Je länger sie mit ihm lebte, desto unerträglicher wurde er ihr. Er störte sie bei jeder Verrichtung, ob sie die Kinder wickelte, strickte oder kochte. Die Mahlzeiten waren am schlimmsten. Sie konnte Harcks ausdrucksloses Gesicht nicht mehr ertragen. Sie hätte ihm am liebsten hineinspucken mögen. Stattdessen gewöhnte sie sich an, ihn nicht mehr anzusehen. Gegen seinen Geruch konnte sie nichts ausrichten. Sein Bart roch nur sonntags frisch. In der Woche sammelten sich in dem Stoppelfeld die Gerüche der Speisen vermischt mit dem Schweißgeruch von der Arbeit, ein Gemisch aus Fisch, Pfannkuchen, Schafsfett und anderen dumpfigen Dünsten.
Keike warf eine Ente auf den Tisch. Sie war fertig gerupft. Sie griff neben sich, nahm die nächste zur Hand, riss Feder für Feder heraus, indem sie die Federkiele zwischen Daumen und Messerrücken klemmte. Wenn Harck sich am Kamin rekelte und sie keine Luft mehr bekam, öffnete sie die Tür und ließ die Windstöße ein, die vom Meer her Frische brachten. Gierig sog sie die Luft in sich auf. Doch dann rief Harck: »Es ist kalt.« Den ganzen Winter sollten die Türen und Fenster
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