Die Insel der Witwen
Frost. Er überzog die ganze Insel mit einem weißlichen Schleier. Die Wiesen waren mit Kristallen überzuckert, die Pflanzen weiß überstäubt. Überall reihten sich winzige Eiströpfchen aneinander. Sie hafteten an den Halmen, Sträuchern, den Dächern und Zäunen. Schon nach wenigen Tagen hatte der Frost einen weißen Panzer um die Insel gelegt. An den Rändern der Wasserläufe im Watt bildeten sich Eisspiegel, die bei Flut losbrachen, sich klirrend übereinanderschoben, zu mächtigen Eisschollen anwuchsen, sich schließlich zu Eisbergen auftürmten und als weiße Kegel im Wasser trieben wie in der Arktis.
Keike saß mit Göntje und dem Schwiegervater in der Stube. Der Schwiegervater lag mit der Wärmflasche unter der Bettdecke im Alkoven. Er schien zufrieden, murmelte leise vor sich hin. Marret war noch in der Tenne und klopfte die Halmbündel weich. Sie wollten sie zu Seilen drehen. Ihre Schläge hallten durch das Haus. Keike hielt ihre heiße Teetasse an die vereiste Fensterscheibe. Eine Eisblume schmolz. Keike lugte durch das kleine Guckloch. Riesige Eiszapfen hingen wie Speere bis ins Fenster hinein. Sie setzte sich an den Kamin, trank einen Schluck Tee und blickte ins Feuer. Es schwelte.
Als Harck noch lebte, hatte sie die Tage bis zum Biikebrennen gezählt, denn dann fuhr er endlich wieder hinaus. Viele Frauen klagten, dass die Männer bald wieder in See stachen. Sie wurde von Tag zu Tag vergnügter. Sie benahm sich Harck gegenüber freundlicher, fragte ihn, ob er noch Sachen zu flicken hätte oder ob sie ihm vor der Abreise etwas besonderes kochen sollte. Aber es war ihm wie immer einerlei. Er nahm seine Seekiste und zog von dannen.
Marret kam mit den Halmfasern. Sie setzten sich auf die Hocker. Flink drehten die Daumen die weichen Halme. Marrets Seil wuchs am schnellsten. Sie schlang als Erste den Knoten. Sie war sehr geschickt. Sofort nahm sie ein neues Halmbündel. Die Mädchen summten ein Frühlingslied.
Keikes Gedanken kreisten wie ihre Daumen. Jeden Frühling, wenn die Natur der Insel ein buntes Kleid nähte, wenn die Blumen hervorsprossen und ihre Knospen öffneten, wenn die Lämmer umhersprangen, wenig später die ersten Schwalben zurückkehrten und ihre Nester unter den Balken bezogen, wenn die Kinder ihr Tschilpen nachahmten und die Dünenrosen ihren samtig-frischen Duft verströmten, jeden Frühling, wenn sie auf der Bank vor ihrem Haus saß, und der Wind einen Hauch dieses betörenden Duftes an ihre Nase trug, spürte Keike ihr entbehrungsreiches Leben, spürte ihre Sehnsucht nach Liebe. Dann breitete sich in ihr ein tiefer Schmerz aus, der ihr von innen gegen die Brust drückte wie ein Felsblock. Die harte Arbeit half ihr, ihr Begehren abzuschwächen. Sie hatte so viel zu tun, dass sie abends todmüde ins Bett sank, in einen traumlosen Schlaf fiel und am frühen Morgen wieder mit dem Tagwerk begann.
Im Spätsommer, wenn das Licht weicher wurde, wenn der Herbst sich mit ersten Anzeichen ankündigte, die ersten Halme und Sträucher sich gelb verfärbten, die Heideblüten ihre Leuchtkraft verloren und ihre bräunliche Farbe annahmen, wenn immer mehr Rosenköpfe sich entblößten und zu kahlen Hagebuttenhäuptern formten, in diesen letzten Wochen vor dem einbrechenden Herbst, in denen der Wind schlief wie ein müdes Kind, um Kräfte für seine tosenden Stürme zu sammeln, war sie am traurigsten. Die unabwendbare Zukunft, wieder einen Winter mit Harck verbringen zu müssen, erschien ihr, wie durch eine Reuse zu kriechen, die sich immer mehr verengte und am Ende verschlossen war.
Das Feuer verglomm. Keike legte Reisig nach. Sie machte sich Sorgen. Wenn der Winter so weiter wütete, hätten sie bald nichts mehr zum Feuer machen, trotz der Planken, die sie im Herbst erbeutet hatte. Und ob die Vorräte reichten, wusste sie auch nicht. Und es gab keine Schiffbrüche. Das Meer war zu einer dichten Eisdecke zusammengewachsen, die Schiffe lagen im Hafen, ihre Ketten armdick in Eispanzern gefangen, ihre Rümpfe erstarrt. Zudem hatte der Frost die Austernbänke in den Watten ruiniert. Die Muscheln waren unter der Eisdecke erstickt. Es blieben ihr nur die Aale. Aale stechen war Männersache. Aber bei den Witwen gab es keinen Unterschied zwischen Männerarbeit und Frauenarbeit. Morgen wollte sie mit den jüngeren Frauen ins Eis gehen. Die Watten hielten jetzt. Beim Aalstechen nahmen sie niemals die alten Frauen und die Kinder mit. Man bekam leicht eine Lungenentzündung. Und sie mussten sich
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