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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Fohl
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vorwärts zu bewegen. Drei grüne Spuren liefen jetzt durch die Schneedecke.
    Andreas Hartmann schichtete die Schneeklötze aufeinander. »Wir brauchen noch einen vierten, einen noch etwas kleineren.«
    Die vierte Rolle war fertig.
    »Das wird die Spitze, Hannes. Wir bauen den Inselleuchtturm! Mit Türen und Fenstern und einer schönen Kuppel. Auf der einen Seite ist er geschlossen, auf der anderen zeigen wir die Innenansicht, wie bei einer Puppenstube. Da kommt eine Wendeltreppe hin und wir ziehen Stockwerke ein.«
    Hannes hüpfte in die Höhe. Seine Augen glänzten. Er umarmte seinen Vater.
    Sie bauten und planten den ganzen Nachmittag. Zu ihrem Glück hatte es aufgehört zu schneien. Als sie die letzte Verzierung auf dem Dach des Turmes angebracht hatten, dämmerte es bereits. Arm in Arm standen Vater und Sohn und bewunderten ihr Werk. Der Turm war prächtig geworden.
    »Er ist fast so groß wie Sie, Vater.«
    »Lauf in die Küche und lass dir von Imke ein Glas und einen Kerzenstummel geben. Aber pass auf, dass der Docht nicht nass wird.«
    Hannes klatschte in die Hände.
    Andreas Hartmann ebnete die Spitze des Turmdaches.
     
    Er zog seine Handschuhe aus, kramte seine Zündhölzer aus der Manteltasche.
    Hannes kam mit der Kerze. Sie setzten das Glas auf das Dach und entzündeten den Docht. Sie ließen ein bisschen Wachs ins Glas tropfen, mit dem sie den Stummel anklebten.
    Ein schwacher Lichtschein flackerte im Dunkel. Hannes lehnte seinen Kopf an den Bauch seines Vaters. Vater und Sohn blickten verträumt in den kleinen Lichtpunkt. Erst als ihnen die Kälte in die Glieder fuhr, liefen sie ins Haus zurück.
     
    H
     
    Seit drei Tagen schütteten schwarze Wolken dicke Schneeflocken über die Insel. Über dem Meer stürzten die Flockenmassen kopfüber in die eisgraue See, ihrem jähen Ende entgegen. An Land blieben die Flocken liegen, hüllten Felder und Wiesen, Häuser und Dünen in weiße Tücher.
    Die Sanddünen glichen Eisbergen. Kein Halm, kein Heidestrauch war mehr zu sehen. Alles Leben war unter einem dichten weißen Teppich verborgen. Wenn die Dünen ihr Schneekleid trugen, hielten auch die Toten, die in den Hügeln wohnten, Winterschlaf.
    Keike schaute in das Schneetreiben. Die Flocken trieben wie Federn durch die Luft, verfolgten sich, vom Wind gestoßen, segelten zu Boden, ihrem Schicksal entgegen, eines Tages als Tautropfen in der Erde zu versinken. Keike fühlte sich ebenso hilflos wie die Schneeflocken, die ihrem unwiederbringlichen Los entgegentaumelten.
    Die Zaunpfähle waren mit weißen Hauben bedeckt. Keike stellte sich vor, dass jedes Häubchen ein Engel war, der sie beschützte.
    Im letzten Winter schliefen die Kinder unruhig. Sie fieberten, sprachen wirre Gedankenfetzen. Sie kühlte ihre Waden, ihre Stirn. Plötzlich entdeckte sie rote Flecken auf ihrer Haut. An den Ohren, auf der Brust. Sie fiel auf die Knie und betete. »Gott im Himmel, lass es nicht die Sprenkelkrankheit sein, lass sie am Leben!«
    Sie rannte zu Medje hinüber. »Medje, die Kinder haben rote Pusteln.«
    Medje untersuchte die Mädchen. »Hab keine Angst, Keike, es sind wohl nur die Röteln, du weißt, die kleine Jette hat sie gehabt.«
    Medje behielt recht. Doch zwei Jahre zuvor waren viele Kinder auf der Insel an der Sprenkelkrankheit gestorben.
    Keike faltete die Hände. »Lieber Gott, lass uns diesen Winter gesund überstehen.«
    Die Böen klatschten die Flocken an die Fensterscheiben. Dichte weiße Streifen flogen durch die Luft. Endlose Bänder, die sich, vom Wind gepeitscht, zu hohen Wehen türmten.
    Am frühen Nachmittag hörte es endlich zu schneien auf. Alle kamen aus den Häusern, um sich freizuschaufeln. Überall ertönte das Knarzen der Schneemassen unter den Stiefeln, das Schaben und Kratzen der Schippen, das dumpfe Aufschlagen des feuchtschweren Schnees am Wegesrand. Auf und nieder gingen die Körper und Schaufeln. Keike hielt mit dem Schaufeln inne, betrachtete die vielen schwarzen Punkte in der weißen Schneelandschaft. Die Witwen glichen hungrigen Krähen, die nach Nahrung pickten.
    Das Wetter trieb seine Kapriolen. Plötzlich setzte Tauwetter ein. Die Wege waren aufgeweicht, dass sie nur mit Springstöcken aus dem Haus gehen konnten. Die Dünen hatten Ähnlichkeit mit Geisterwesen. Ihre abgetauten Spitzen ragten als gelbe Köpfe aus ihren weißen Mänteln hervor. Zuweilen sah Keike sie hin-und herwackeln, auf-und abnicken, als würden sie sich miteinander unterhalten.
    Kurz nach dem Tauwetter kam heftiger

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