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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Fohl
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mir ein.
10. Februar
    Jetzt habe ich schon wieder sechzig Tage vergebens gehofft, noch immer keine Nachricht.
22. Februar
    Es ist sehr kalt. Die Fenster sind gefroren. Es ist zehn Uhr. Ich gehe jetzt zu Bett. Möchte der morgige Tag mir doch einen Brief von meinem Geliebten bringen.
     
    29. März
     
    Hat sein Herz aufgehört zu schlagen? Habe ich mein Glück verloren? Traurig blicke ich dem Frühling entgegen. Die Vögel singen schon und Tükke ist immer noch nicht da. Womöglich liegt er auf dem Meeresgrund. Gottvater, hast du unsere Herzen vereint, um uns auf ewig zu trennen? Oh nein, ich kann es nicht glauben, denn du, Vater im Himmel, bist doch die Liebe. Du wirst uns wieder vereinen.
     
    Es ist jetzt Abend. Ich sitze ganz allein auf dem Stuhl, auf dem sonst Tükke saß. Ach, käm er nur für eine Stunde, damit ich wüsste, dass er noch am Leben ist. Ich nehme sein Bild, betrachte es, drücke es an mein Herz.
     
    Wo bist du, Tükke? Schreib wenigstens, dass du noch lebst …
     
    Keike schloss das Heft, umarmte Stine. Sie weinten, versuchten, sich die Sehnsucht aus dem Herzen zu spülen. Aber all die Tränen flossen vergebens.
     
    H
     
    Der Nebel löste sich auch am folgenden Tag nicht auf. Wie ein Leichentuch schwebte der weiße Dunst ums Haus. Keike hörte den Wasserkessel summen. Sie schlurfte zum Herd, legte etwas Reisig nach. Das Heidekraut knisterte, verbreitete einen herben Duft im Zimmer. Die Männer, die zurückgekehrt waren, saßen jetzt bei ihren Frauen und Kindern. Bei ihr schrie der Schwiegervater. Keike raffte sich auf. Sie beeilte sich, mit der Arbeit fertig zu werden. Sie wollte zu Medje hinüber gehen. Sie freute sich, dem Geschrei zu entkommen. Keike füllte warmes Wasser in die Schüssel, wusch den Schwiegervater, schrubbte Tisch und Herd, fegte die Stube und setzte flink einen Sauerteig an. Dann warf sie ihr Tuch über und lief zu Medje hinüber. Sie wollten Besen binden, bis die Mädchen aus der Schule kamen.
    Alles lag bereit. Sie ordneten die braunen Halme schabten sie, und legten handgroße Bündel zusammen. Sie umwickelten die Garben mit Werg und fügten Bund an Bund. Keike hielt Medje die Halme, damit sie den Faden durchziehen konnte. Sie presste sie fest zusammen.
    Sie schwiegen. Keike genoss die Stille. Sie betrachtete Medje. Tiefe Falten zogen sich über ihr Gesicht, wie eine Wattlandschaft kräuselte sich ihre Haut. Auf der Stirn, auf den Wangen, um Augen und Mund herum. Medje wickelte den Faden um die Halme und zog fest an. Auf ihren Händen zeichneten sich braune Flecken ab, die Finger waren leicht gekrümmt und geschwollen. Fast alle alten Frauen hatten Muskelreißen oder Gicht. Medje beugte den schlohweißen Kopf näher an das Gebinde.
    »Meine Augen sind nicht mehr die besten«, seufzte sie.
    Sie war sehr gealtert in der letzten Zeit. Sie legte keinerlei Sorgfalt mehr auf ihr Äußeres. Über ihrem Kleid trug sie eine abgewetzte Matrosenjacke. Sie selbst nannte sie »meine Takelage« . Die Jacke hatte Flecken, die Ärmelränder waren dunkel verschmutzt. Auch die Schürze war befleckt. Es klebten Teigreste daran, an einigen Stellen zeigten sich Fettflecken. Sie war jetzt achtundfünfzig Jahre alt. Seit fünfzehn Jahren war sie zum dritten Mal Witwe.
    »Medje, du hast nie von deinen Männern erzählt. Hast du sie genauso geliebt wie Stine den Tükke?«
    »Nur Boy, meinen ersten. Wir hatten fünf glückliche Jahre. Boy war jeden Winter zu Hause. Wir liebten uns wie die Turteltauben und freuten uns auf jedes Kind.«
    Medje schwieg.
    »Und dann?«
    »Dann kam er nicht mehr wieder. Ich weiß bis heute nicht, ob er ertrunken ist oder noch lebt.« In Medjes Augen stauten sich Tränen. »Ich war so traurig, dass ich mit dem Gedanken spielte, ins Wasser zu gehen. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt, hatte drei kleine Kinder zu versorgen. Ich liebte Boy. Wenn Mutter nicht gewesen wäre …«
    »Wann hast du wieder geheiratet?«
    »Schon nach vier Jahren. Vater hatte dafür gesorgt, dass Boy für tot erklärt wurde. Ich heiratete Erik. Er war Witwer. Seine Frau war im Kindbett gestorben. Er war allein mit seinem neugeborenen Sohn.
    Drei Jahre nach unserer Hochzeit starb er in Afrika an Gelbfieber. Ich war verzweifelt, ich hatte gerade Thesje geboren. Aber sehr traurig war ich nicht. Ich habe ihn nicht geliebt.«
    »Und dein dritter?«
    »Dass ich Torsten geheiratet habe, verzeihe ich mir nie. Er war Wattenfischer. Er trieb sich überall herum, wo Branntwein verkauft wurde. Bis spät in

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