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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Fohl
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die Nacht saß er mit seinen Saufbrüdern zusammen. Dann kam er nach Hause, weckte alle mit seinem Gegröle auf und verlangte von mir, dass ich ihm was zu essen vorsetze. Eines Abends ging ich ihm nach. Kurz nachdem er im Haus von Kay Hansen verschwunden war, ging auch ich in die Schankstube. Die Männer saßen an einem schmutzigen Tisch und rauchten. Ich setzte mich zu ihnen und rief: ›Auch ein Glas für mich; mein Mann bezahlt.‹ Torsten tobte. Er schlug mich grün und blau und warf mich auf die Straße. Lange lag ich vor der Tür und weinte. Ich erzählte damals allen, dass ich die Stiege heruntergefallen war. Ich schämte mich so sehr.« Medje reckte die Hände zum Himmel. »Gott hat mich erlöst. Wir waren mit dem Boot unterwegs, um die Netze zu überprüfen, als er über Bord ging. Er muss vollkommen betrunken gewesen sein. Er ging einfach unter, obwohl das Wasser nur brusthoch stand.«
    »Du hast ihn nicht retten können?«
    Medjes Blick verhärtete sich. »Nein.«
    Keike spürte einen Druck in der Lunge, der ihr bis zur Kehle hinaufstieg. »Medje, ich … es war an einem Freitag. Ich stapelte gerade Kaminholz an der Schuppenwand, als Harck mit ein paar Kaninchen nach Hause kam. Er ging an mir vorbei, ohne mich zu beachten. Plötzlich warf ich einen Holzscheit nach ihm. Das Scheit sprang mir ohne mein Zutun aus der Hand, traf Harck an der Schläfe. Harck blieb stehen, befühlte seine Wunde, starrte auf das Blut, das an seinen Fingern klebte. Dann sah er mich an. Mit großen, erstaunten Augen. Ich drehte mich um und arbeitete weiter. Ich hatte kein schlechtes Gewissen, Medje, ich hatte nur Wut im Bauch. Und wenn ich die Axt in der Hand gehabt hätte, wäre er …«
    »Das ist alles?«
    Keike schluckte. »Bevor er im Frühjahr hinausfuhr, erschien mir der Totenvogel. Und die Nachtvögel schrien. Harck wird nicht mehr wiederkommen.«
     
    H
     
    Früher als erwartet war der Winter eingezogen. Die Landschaft hatte sich in einen weißen Mantel gehüllt. Andreas Hartmann saß in der warmen guten Stube, die vom Duft nach Printen und Kaffee erfüllt war. Er konnte der Gemütlichkeit nichts abgewinnen. Er fühlte sich eingeengt, zur Untätigkeit verurteilt. Der Winter hatte viel zu früh begonnen. Die Zeit verging nur im Schneckentempo. Er hatte nichts mehr zu tun. Alle Vorbereitungen waren getroffen. Erst im Frühjahr konnte er weitere Schritte einleiten. Sollte er noch Tage und Wochen im Hause hocken? Und einer Bibelstunde nach der anderen lauschen? Almut lud ständig ihre Damen ein. Er mochte sie nicht. Er hörte ihre Stimmen durch die Decke. Sie saßen oben im Empfangszimmer, sangen und murmelten ihre Gebete. Auch Jule musste an den Betstunden teilnehmen. Er bedauerte seine Tochter.
     
    Draußen tobte dichtes Schneegestöber. Andreas Hartmann sehnte sich nach der Baustelle. Er liebte seine Arbeit, seine Leuchttürme. Er hinterließ der Nachwelt etwas Wertvolles, schuf Feuerketten, Feuerkreise, die die Schiffe sicher leiteten. Seine Arbeit war nützlich und mannhaft. Sie forderte seine Standhaftigkeit und sein Selbstvertrauen stets aufs Neue heraus und er konnte sich immer wieder beweisen, dass es kein unlösbares Problem für ihn gab.
    Ohne seine Leuchttürme konnte er nicht leben. Wenn er nach der harten Bauzeit auf der Spitze seines Turmes, zwischen Himmel und Meer thronte, überkam ihn ein Gefühl von Freiheit und Weite, wie er es nirgendwo sonst erfuhr. Alle Sorgen fielen von ihm ab, die Brust weitete sich und sein Leib war von wohliger Wärme erfüllt. Und wenn das Leuchtfeuer über das Meer hinaus leuchtete, dann spürte auch er Licht in seinem Innern, und einen Moment lang schien es ihm, als wäre er selbst die Laterne, die in die Dunkelheit strahlte.
    Er blickte in die Schneewand, das Murmeln der Frauen surrte in seinen Ohren. Es war noch nicht einmal Weihnachten.
    Das Harmonium erklang. Die Frauen sangen Halleluja.
    Die Tür öffnete sich, Hannes’ Kopf erschien. »Vater, bauen Sie mit mir einen Schneemann?«
    »Hannes, das ist eine sehr gute Idee.«
    Sie zogen sich Jacken und Stiefel an, setzten die Mützen auf und stülpten die Handschuhe über. Sie liefen auf die Wiese. Jeder formte einen Schneeball. Der Schnee haftete gut. Sie rollten die Bälle durch den Schnee, bis zwei große Klumpen entstanden. Hannes versuchte, seine Rolle aufzurichten. Andreas Hartmann half ihm.
    »Ich brauche noch eine Kugel, Hannes, eine etwas kleinere.«
    Hannes rannte los. Nur mit Mühe gelang es ihm, die weiße Masse

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