Die Insel der Witwen
Stiefel und Strümpfe aus. Wohin war er geraten? Er erhob sich wieder, streifte die durchnässte Hose ab, kramte eine trockene Hose und Strümpfe aus seiner Tasche, zog sie über. Er hob die Bettdecke an, legte sich auf das Feldbett. Es hing durch. Er wickelte sich fest ein. Erstarrt blieb er in der Mulde liegen. Er war so erschöpft, dass er in einen festen, traumlosen Schlaf fiel.
Er war gerade zu sich gekommen, als es klopfte. Er richtete sich auf. »Ja, bitte?«
Die Tür öffnete sich. Ein alter Mann trat ein. Er war sicher schon an die siebzig Jahre alt. Tiefe Falten durchzogen sein Gesicht. Jede Falte schien für ein Abenteuer zu stehen. Er nahm die Mütze ab. Das Kopfhaar, das sich um die Glatze kränzte, war schlohweiß, ebenso der buschige Bart, der Mund und Kinn wie ein Vogelnest umgab. Er war so dicht gewachsen, dass er nur die Unterlippe des Mundes sehen ließ.
»Moin, ich bin Kapitän Lorenzen, willkommen auf der Insel.«
Andreas Hartmann erhob sich. »Guten Tag, Herr Ricken hat mir schon von Ihnen erzählt. Wollen Sie sich nicht setzen?«
»Nein danke, nicht jetzt. Ich möchte Sie zum Essen einladen. Ihre Leute kommen ja erst morgen. Also, ich wohne im Süderdorf, rechts vom Hökerladen, direkt am Hauptweg. Es ist das Haus mit dem Ruderblatt neben dem Eingang. Kommen Sie so um sechs. Sie brauchen etwa zwanzig Minuten. Das Haus ist nicht zu verfehlen.«
»Danke. Ich komme gern.«
Lorenzen musterte ihn. Seine Augenbrauen waren in der Mitte zusammengewachsen. Darunter lagen starre, lichtgraue Augen.
»Also, bis dann.« Der Kapitän drehte sich um und verließ die Baracke.
Andreas Hartmann ging den Weg durch die Dünen, der zum Hauptweg führte. Feuchte Dünste schwebten durch die Luft. Er zog seine Mütze über die Stirn. In der Dämmerung erschien ihm die Insel noch unwirtlicher. Die Dünenberge und die grauen Heidesträucher wirkten wie ein endloser, dunkler Schleier. Diese Insel war in der Tat alles andere als einladend. Plötzlich kreischte etwas neben ihm. Er fuhr zusammen. Ein Fasan kam aus dem Gebüsch gelaufen, kreuzte seinen Weg. Dummes Vieh, mich so zu erschrecken.
Er bog in den Hauptweg ein. Er freute sich auf den Abend, war froh, einen Gesprächspartner zu haben. Außerdem hatte er einen Bärenhunger.
Auf dem Weg war keine Menschenseele zu sehen. Jedoch bemerkte er, wie sich Vorhänge und Schatten an den Fenstern einiger Häuser bewegten. Er fand den Hökerladen, stand schließlich vor dem Kapitänshaus, das einen sehr gepflegten Eindruck machte. Das Dach war neu gedeckt, Fenster und Eingangstür frisch gestrichen. Das Grundstück war mit einer Mauer aus Feldsteinen umfriedet, auf denen kurz geschnittene Rosenbüsche wuchsen. Andreas Hartmann ging auf die Tür zu. Rechterhand stand das Ruderblatt, in das Lorenzen seinen Namen geschnitzt hatte.
»Da sind Sie ja. Kommen Sie rein.« Der Kapitän führte ihn in die Stube. »Warten Sie einen Moment, ich hole kurz das Wasser für den Grog.« Lorenzen lachte.
Die Augen, dachte Andreas Hartmann, wirkten abwesend, beinahe stumpf, trotz des Lachens.
Die Stubenwände waren mit blau bemalten holländischen Kacheln bestückt. Sie stellten die Geschichte vom Sündenfall dar. Über der Tür hing eine lange Barte eines Wals mit Schnitzereien, die eine Walfischjagd darstellten. Alle Möbel waren aus erlesenem Zedernholz gefertigt. Lorenzen kam zurück.
»Sie haben schöne Möbel.«
»Ich habe das Holz aus Ostindien mitgebracht und sie dann hier fertigen lassen.«
Andreas Hartmann ließ seinen Blick über die vielen Souvenirs schweifen. »Die vielen Andenken! Das ist ja wie auf einem Basar.«
»Tja, ich hatte es mir angewöhnt, von überall was mitzubringen. Die Holzfigur da drüben ist ein Fruchtbarkeitsgott aus Kairo, und der Buddha auf der Fensterbank kommt aus Hongkong. Über jeden Gegenstand, den Sie hier sehen, kann ich eine kleine Geschichte erzählen.«
Lorenzen goss heißes Wasser über den Rum. Das Rumaroma verbreitete sich im ganzen Zimmer. Er setzte sich. »Prost, Herr Hartmann.«
»Prost.«
Der Kapitän nippte am Grog. »Der Walfischzahn neben dem Buddha stammt von meiner ersten Reise. Ich war Schiffsjunge und fuhr auf dem Walfänger meines Vaters mit. Es war der größte Wal, den er jemals gefangen hatte. Eine Schaluppe kenterte. Drei Mann kamen ums Leben.« Er zeigte auf die Wand. »Den Federschmuck hat mir ein Häuptling geschenkt, nachdem wir die Friedenspfeife geraucht hatten. Danach beschossen die Eingeborenen uns
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