Die Insel des Dr. Moreau
Das kleine rosige Faultierwesen stürzte auf mich zu, ich warf es um, zerriß ihm das häßliche Gesicht mit dem Nagel an meinem Stock, und eine Minute darauf kletterte ich einen steilen Seitenpfad empor, eine Art schrägliegenden Schacht, der aus der Schlucht führte. Ich hörte hinter mir Heulen und Rufen: »Fangt ihn!«, »Haltet ihn!«, und das Geschöpf mit dem grauen Gesicht erschien hinter mir und zwängte seine Riesenmasse in den Spalt. »Weiter, weiter!« heulten sie. Ich kletterte den engen Spalt im Felsen hinauf und kam auf dem mit schwefelhaltigem Gestein bedeckten Platz westlich vom Dorf der Tiermenschen heraus.
Dieser Spalt war mein Glück, denn der enge, sich schräg heraufschlängelnde Weg muß die nächsten Verfolger aufgehalten haben. Ich lief über die weißgelbe Fläche und einen steilen Hang hinunter durch spärliches Gesträuch und kam weiter unten zu einer mit hohem Schilfbewachsenen Ebene. Dahindurch arbeitete ich mich in ein dunkles, dichtes Gebüsch, dessen Boden schwarz und feucht war. Als ich in das Schilf hineintauchte, erschienen meine ersten Verfolger aus dem Spalt. Die Luft dröhnte hinter mir und um mich von drohenden Rufen. Ich hörte das Krachen des Schilfs und hin und wieder das Knistern eines brechenden Zweiges. Einige von den Geschöpfen brüllten wie aufgeregte Raubtiere. Links von mir bellte der Spürhund. Ich hörte Moreau und Montgomery aus derselben Richtung rufen. Ich wandte mich scharf nach rechts. Mir schien noch, als hörte ich, wie Montgomery mir zuschrie, um mein Leben zu laufen.
Plötzlich gab der weiche und sumpfige Boden unter mir nach; ich war verzweifelt, stürzte jäh hin, arbeitete mich durch den knietiefen Morast und kam so zu einem gewundenen Pfad, der durch hohes Schilf führte. An einer Stelle sprangen drei seltsame, rosige, hüpfende Tiere, etwa so groß wie Katzen, vor meinen Füßen auf. Diesem Pfad folgte ich bergauf, über einen zweiten freien Platz mit weißer Inkrustation, und tauchte dann wieder in einen Schilfgürtel.
Dann machte der Weg plötzlich eine Biegung und führte am Rand eines steilwandigen Spalts entlang, der unvermutet wie ein Grenzgraben in einem englischen Park dalag. Ich lief noch mit aller Kraft, und ich sah diesen Abgrund erst, als ich bereits kopfüber durch die Luft flog.
Ich fiel mit Unterarmen und Kopf in Dornen und stand mit blutendem Gesicht und einem zerrissenen Ohr auf. Ich war in eine steile Schlucht gestürzt, die dornig und felsig und von einem Nebel erfüllt war, der mich in Streifen umzog. Ein schmaler Bach, aus dem dieser Nebel stieg, durchfloß in Windungen die Schlucht. Ich war erstaunt über diesen dünnen Nebel mitten im vollen Glanz des Tageslichts, aber ich hatte keine Zeit, still zu stehen und mich zu wundern. Ich wandte mich nach rechts, flußabwärts, weil ich hoffte, so zum Meer zu kommen und mich dort notfalls ertränken zu können. Erst später merkte ich, daß ich im Fallen meinen Stock verloren hatte.
Dann wurde die Schlucht etwas enger, und ich stieg achtlos in den Bach. Ich sprang ziemlich schnell wieder heraus, denn das Wasser war fast kochendheiß. Ich sah auch, daß ein dünner, schwefliger Schaum auf dem wirbelnden Wasser trieb. Fast unmittelbar darauf kam eine Biegung, und ich sah den blauen Horizont. Auf dem nahen Meer blitzte das Sonnenlicht in Myriaden von Facetten. Ich sah den Tod vor mir. Aber ich schwitzte und war atemlos, und ich spürte, wie das warme Blut angenehm durch meine Adern floß. Ja, ich frohlockte sogar, daß ich meinen Verfolgern entgangen war. Ich hatte nicht die Kraft, mein Leben zu beenden. Ich blickte zurück, woher ich gekommen war.
Ich lauschte. Abgesehen vom Summen der Mücken und vom Zirpen einiger kleiner Insekten, die durch die Dornen hüpften, war die Luft absolut still. Dann hörte ich, sehr leise, das Bellen eines Hundes und ein Schnattern und Schwatzen, den Knall einer Peitsche und Stimmen. Sie wurden lauter, dann wieder schwächer. Der Lärm zog den Bach hinauf und erstarb. Einstweilen war die Jagd vorüber.
Aber ich wußte jetzt, welche Hilfe ich von den Tiermenschen zu erwarten hatte.
13
Eine Unterredung
Ich wandte mich wieder um und ging zum Meer hinunter. Der heiße Bach erweiterte sich zu einem seichten, bewachsenen Delta, in dem eine Menge von Krebsen und langgliedrigen, vielbeinigen Geschöpfen bei meinem Nahen davonkroch. Ich ging bis zum Rande des Salzwassers; erst dann fühlte ich mich sicher. Ich drehte mich um und blickte, die Arme in die
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