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Die Insel des Dr. Moreau

Die Insel des Dr. Moreau

Titel: Die Insel des Dr. Moreau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. G. Wells
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die versöhnlichsten Gesten des Geschöpfes konnten mich nicht beruhigen.
    Es zögerte, als es sich näherte. »Geh weg«, rief ich. Die kriechende Haltung des Geschöpfs erinnerte sehr an einen Hund. Es zog sich ein wenig zurück, ganz wie ein Hund, den man nach Hause schickt, stand still und sah mich mit braunen Hundeaugen flehend an. »Geh weg«, wiederholte ich. »Komm mir nicht nahe.«
    »Darf ich dir nicht nahe kommen?« fragte er.
    »Nein. Geh weg«, beharrte ich und griff nach der Peitsche. Dann nahm ich die Peitsche zwischen die Zähne und bückte mich nach einem Stein, und damit vertrieb ich das Geschöpf.
    So kam ich unbehelligt zur Schlucht des Tiervolks, versteckte mich zwischen dem Unkraut und dem Schilf, die diesen Spalt vom Meere trennten, und beobachtete die, welche erschienen. Ich versuchte, an ihren Gesten und ihrer Erscheinung zu erkennen, wie Moreaus und Montgomerys Tod und die Zerstörung des Hauses des Schmerzes auf sie gewirkt hatte. Ich weiß jetzt, wie töricht meine Feigheit war. Wäre ich ebenso mutig gewesen wie am frühen Morgen, hätte ich Moreaus Zepter fassen und über das Tiervolk herrschen können. Aber ich versäumte die Gelegenheit und sank herab zur Stellung eines bloßen Führers unter meinesgleichen.
    Gegen Mittag kamen einige Tiermenschen und hockten sich im Sand in die Sonne. Die gebieterischen Stimmen von Hunger und Durst siegten über meine Furcht. Ich kam aus den Büschen hervor und ging, den Revolver in der Hand, zu diesen sitzenden Gestalten hinunter. Eine, eine Wolfsfrau, wandte den Kopf und sah mich an; die anderen taten es ihr nach. Niemand versuchte aufzustehen und mich zu grüßen. Ich fühlte mich zu schwach und zu müde, um darauf zu bestehen, und ließ es einfach geschehen.
    »Ich will etwas zu essen«, sagte ich beinahe entschuldigend, als ich näher kam.
    »In den Hütten gibt es zu essen«, sagte ein Ochsenebermensch schläfrig und wandte seinen Blick von mir.
    Ich ging an ihnen vorbei und in den Schatten der fast verlassenen Schlucht hinunter. Der widerliche Geruch schlug mir entgegen. In einer leeren Hütte aß ich einige Früchte, nachdem ich ein paar halbvermoderte Zweige und Ruten vor den Eingang gelehnt und mich mit dem Gesicht diesem zugewendet hatte; ich behielt den Revolver in der Hand, und da die Erschöpfung der letzten dreißig Stunden mich übermannte, überließ ich mich einem leichten Schlummer, denn ich vertraute darauf, daß die lockere Barrikade, die ich errichtet hatte, sofort zusammenbrechen und genug Geräusch verursachen würde, um mich vor einer Überrumpelung zu schützen.

21
    Die Verwilderung
    des Tiervolks

    So wurde ich einer vom Tiervolk auf Dr. Moreaus Insel. Als ich erwachte, war es dunkel um mich. Der Arm schmerzte mich. Ich setzte mich auf und fragte mich zunächst, wo ich war. Draußen hörte ich rauhe Stimmen. Dann sah ich, daß meine Barrikade fort und der Eingang zur Hütte frei war. Der Revolver lag noch in meiner Hand.
    Ich hörte dicht neben mir etwas atmen und sah, daß da jemand kauerte. Ich hielt den Atem an und versuchte zu sehen, wer es war. Das Wesen begann sich langsam zu bewegen. Dann strich mir etwas Weiches und Warmes und Feuchtes über die Hand.
    All meine Muskeln zogen sich zusammen. Ich riß meine Hand weg. Ein Schreckensschrei blieb mir in der Kehle stecken. Dann wurde mir klar, was geschehen war, so daß ich meine Finger am Revolver ruhen ließ.
    »Wer ist da?« fragte ich mit heiserem Flüstern, den Revolver noch erhoben.
    »Ich, Herr.«
    »Wer bist du?«
    »Sie sagen, jetzt gibt es keinen Herrn mehr. Aber ich weiß, ich weiß. Ich trug die Leichen ins Meer, o Mann, der ins Meer ging, die Leichen derer, die du erschlagen hast. Ich bin dein Sklave, Herr.«
    »Bist du der, dem ich am Strande begegnet bin?«
    »Eben der, Herr.«
    Das Geschöpf war offenbar treu und harmlos, denn es hätte mich im Schlaf Überfällen können. »Es ist gut«, sagte ich und hielt ihm die Hand zu einem weiteren leckenden Kuß hin. Ich wurde mir darüber klar, was seine Gegenwart bedeutete, und mein Mut kehrte zurück. »Wo sind die anderen?« fragte ich.
    »Sie sind wahnsinnig. Sie sind Narren«, sagte der Hundemensch. »Eben jetzt reden sie da draußen. Sie sagen: der Herr ist tot; der andere mit der Peitsche ist tot. Der andere, der ins Meer ging, ist - wie wir sind. Wir haben keinen Herrn, keine Peitschen, kein Haus des Schmerzes mehr. Das ist zu Ende. Wir lieben das Gesetz und wollen es halten; aber nie wieder gibt es

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