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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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kosmischen Zeit; denn sie hat eine Richtung, einen unruhig drängenden Atem, der aus gestern, heute und morgen besteht, und nicht den ruhigen Atem der Ewigkeit.
    Verweilen wir also nun bei diesem vierten Tag, sagte Pater Caspar. Gott schuf die Sonne, und als die Sonne geschaffen war – und nicht vorher natürlich –, begann sie sich zu bewegen. Wohlan, in dem Augenblick, in welchem die Sonne ihren Lauf begann, um nicht wieder stehenzubleiben, in jenem Fulmen , jenem Blitz oder Lichtstrich, bevor sie ihre erste Bewegung tat, stand sie am Anfang einer präzisen Linie, welche die Erde vertikal in zwei Hälften teilte.
    »Und der Erste Meridian ist der, über dem es mit einem Mal Mittag war!«, kommentierte Roberto, der alles verstanden zu haben glaubte.
    »Nein!«, sagte sein Lehrer tadelnd. »Meinst du, Gott wär so dumm als wie du? Wie kann der Erste Schöpfungstag am Mittag beginnen?! Wilst du am Anfang des Heyls die Schöpfung mit einem mißrathenen Tage beginnen, mit einer Frühgeburt, einem Foetus von Tag, der nur zwölf Stunden hat?«
    Nein, gewiss nicht. Auf dem Ersten Meridian hatte der Lauf der Sonne im Licht der Sterne beginnen müssen, im ersten Augenblick jener ersten Mitternacht, vor welcher die Nicht-Zeit gewesen war. Auf dem Ersten Meridian hatte der Erste Schöpfungstag bei Nacht seinen Anfang genommen.
    Roberto wandte ein, dass dann aber, wenn es auf jenem Meridian Nacht war, doch ein misslungener Tag auf der anderen Seite der Erde gewesen sein musste, dort, wo plötzlich die Sonne aufging, ohne dass es vorher Nacht oder sonst irgendwas gewesen war außer finsterem und zeitlosem Chaos. Worauf Pater Caspar erwiderte, dass die Bibel ja nicht behaupte, die Sonne sei wie durch Zauber am Himmel erschienen und dass es ihm gar nicht übel gefalle zu denken (wie es jede natürliche und göttliche Logik verlange), dass Gott die Sonne geschaffen habe, indem er sie während der ersten Stunden am Himmel vordringen ließ wie einen erloschenen Stern, der sich allmählich entzündet auf seinem Wege vom ersten Meridian bis zu dessen Antipoden. Vielleicht sei die Sonne erst nach und nach entflammt, wie junges Holz, das von den ersten Funken eines Feuerstahls berührt wird und zuerst nur eben schwelt und dann, von einem Lufthauch angeblasen, zu knistern beginnt, um schließlich aufzuflackern und zu einem hohen Brand aufzulodern. Sei es nicht schön, sich den Vater des Universums vorzustellen, wie er auf die noch grüne Kugel am Himmel blies, um sie aufglühen zu lassen, bis sie ihren Triumph feierte, zwölf Stunden nach der Geburt der Zeit und genau über dem Antipoden-Meridian, auf dem die beiden sich nun befänden?
    Blieb zu bestimmen, welcher der erste Meridian sein sollte. Und Pater Caspar anerkannte, dass derjenige der Inseldes Eisens noch immer der beste Kandidat war, wenn man bedachte, dass dort – Roberto hatte es schon von Doktor Byrd erfahren – die Magnetnadel keine Abweichung aufweist und genau auf jenen Punkt dicht neben dem Pol zeigt, wo die Eisenberge am höchsten sind. Was zweifellos ein Zeichen für Stabilität ist.
     
    Kurz und gut, wenn wir akzeptieren würden, dass Pater Caspar von jenem Meridian ausgegangen war und dass er die richtige Länge gefunden hatte, müssten wir annehmen, dass er, obwohl er als Navigator den Kurs richtig bestimmt hatte, als Geograph gescheitert war; denn die Daphne wäre dann eben nicht bei unseren Salomon-Inseln angelangt, sondern irgendwo westlich der Neuen Hebriden und Amen. Aber es gefällt mir nicht, eine Geschichte zu erzählen, die, wie wir noch sehen werden, auf dem hundertachtzigsten Längengrad spielen muss – sonst verlöre sie jeden Reiz –, und stattdessen hinzunehmen, dass sie wer weiß wie viele Grade weiter hüben oder drüben spielt.
    Ich erwäge daher eine Hypothese, die zu widerlegen ich jeden Leser herausfordere: Was, wenn Pater Caspar sich so sehr geirrt hätte, dass er, ohne es zu wissen, auf unserem hundertachtzigsten Längengrad angelangt war? Ich meine auf dem, den wir von Greenwich an zählen – dem letzten Punkt auf der Welt, an den er hätte denken können, lag er doch im Lande antipapistischer Schismatiker.
    In diesem Fall hätte die Daphne sich bei den Fidschi-Inseln befunden (wo die Eingeborenen tatsächlich sehr dunkelhäutig sind), genau an der Stelle, wo heute unser hundertachtzigster Längengrad verläuft, also bei der Insel Taveuni.
    So würde die Rechnung aufgehen. Die Silhouette von Taveuni zeigt eine vulkanische Bergkette wie

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