Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages
den Mond schön haben, da er bei seinem Ermatten die Strahlen einer latenten Sonne verdünnte. Er nahm sich vor, den wiedergewonnenen Tag zu einer neuen Gelegenheit zu machen, in den Reflexen des Sonnenlichts auf den Wellen das Loblied auf das Gold jener Haare und das Blau jener Augen zu lesen.
Doch zugleich genoss er die Schönheit der Nacht, in welcher alles zu ruhen scheint, die Sterne sich stiller als die Sonne bewegen und man fast meinen möchte, der einzige träumende Mensch in der ganzen Natur zu sein.
In jener Nacht war er kurz davor zu beschließen, dass er für alle noch kommenden Tage auf dem Schiff bleiben würde. Doch als er die Augen zum Himmel hob, sah er eine Gruppe von Sternen, die ihm auf einmal das Profil einer Taube mit ausgebreiteten Flügeln und einem Ölzweig im Schnabel zu zeigen schienen. Nun stimmt es zwar, dass am südlichen Himmel, nicht weit vom Großen Hund, schon mindestens vierzig Jahre zuvor ein Sternbild der Taube entdeckt worden war. Aber ich bin mir keineswegs sicher, ob Roberto von dort, wo er sich befand, zu jener Tages- und Jahreszeit dieses Sternbild wirklich sehen konnte. Da jedoch diejenigen, die dort eine Taube gesehen hatten (wie Johannes Bayer in Uranometria Nova und dann später Coronelli in seinem Buch der Globen ), noch mehr Phantasie bewiesen hatten als Roberto, würde ich sagen, dass für ihn in jenem Augenblick jede beliebige Gruppe von Sternen eine Taube sein konnte, eine Haustaube oder Felsentaube oder Ringeltaube oder Turteltaube, was immer man will. Denn mochte er auch an jenem Morgen noch an ihrer Existenz gezweifelt haben, die Flammenfarbene Taube hatte sich in seinem Kopf festgesetzt wie ein Nagel – oder besser noch, wie wir sehen werden, wie ein Goldbeschlag.
Wir müssen uns in der Tat fragen, warum Roberto sich bei der ersten Andeutung von Pater Caspar unter all den Wundern, die ihm die Insel versprechen konnte, gerade für die Taube so sehr interessierte.
Wir werden sehen, je weiter wir diese Geschichte verfolgen, dass in Robertos Kopf – den seine Einsamkeit nun von Tag zu Tag heißer entflammen lassen sollte – jene gerade nur eben angedeutete Taube umso lebendiger wurde, je weniger es ihm gelang, sie zu sehen, ja sie wurde geradezu ein unsichtbares Kompendium aller Passionen seiner liebenden Seele: Bewunderung, Achtung, Verehrung, Hoffnung, Eifersucht, Neid, Erstaunen und Fröhlichkeit. Es war ihm nicht klar (und kann es daher auch uns nicht sein), ob sie für ihn nunDie Insel geworden war oder Lilia oder beides oder das Gestern, in das alle drei verbannt waren für einen, der in ein endloses Heute exiliert war und dessen einzige Zukunft darin bestand, eines Morgens am vorigen Tag anzukommen.
Wir könnten sagen, Pater Caspar hatte ihm das Hohelied der Liebe in Erinnerung gerufen, das ihm sein karmelitischer Hauslehrer einst so oft vorgelesen hatte, dass er es beinahe auswendig konnte – und schon damals litt er honigsüße Qualen der Sehnsucht nach einem Wesen mit Taubenaugen, nach einer Taube, deren Gesicht und Stimme er zwischen den Felsspalten zu entdecken suchte ... Aber solch eine Deutung befriedigt mich nur bis zu einem gewissen Grade. Ich glaube, dass es nötig ist, uns auf eine »Explikation der Taube« einzulassen, Material für einen späteren Aufsatz zu sammeln, der den Titel Columba Patefacta haben könnte, ein Projekt, das mir keineswegs müßig erscheint, wenn ich bedenke, dass ein anderer ein ganzes Kapitel darauf verwandt hat, sich Gedanken über die Bedeutung des Wals zu machen – und der Wal ist schließlich bloß ein hässliches schwarzes oder graues (oder bestenfalls einmal weißes) Meeresungetüm, während wir es mit einem seltenen Vogel von noch seltenerer Farbe zu tun haben, über den sich die Menschheit viel mehr Gedanken gemacht hat als über Wale.
Dies ist tatsächlich der springende Punkt. Ob er mit seinem karmelitischen Hauslehrer darüber gesprochen oder mit Pater Emanuele diskutiert hatte, ob er in seinerzeit sehr beliebten Büchern geblättert oder in Paris Vorträge gehört hatte über das, was man damals Impresen, Devisen, Änigmen oder Rätselbilder nannte – auf jeden Fall muss Roberto etwas über Tauben gewusst haben.
Erinnern wir uns daran, dass er in einer Zeit lebte, in der man ständig Bilder aller Art erfand oder neu erfand, um in ihnen verborgene und enthüllende Bedeutungen zu entdecken. Man brauchte bloß, ich sage gar nicht: eine schöne Blume zu sehen oder ein Krokodil, es genügte ein
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