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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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der junge Mann, der von diesen Reden sehr erschüttert zu sein schien, hatte sich gesenkten Blickes entschuldigt und gebeten, nach Hause gehen zu dürfen.
    »Der arme Junge«, hatte der Freidenker gesagt, »er konstruiert Maschinen zur Berechnung des Endlichen, und wir haben ihn mit dem ewigen Schweigen zu vieler Unendlichkeiten erschreckt. Voilà, das Ende einer schönen Begabung.«
    »Er wird den Schlag nicht verwinden«, hatte ein anderer aus der Gruppe der Pyrrhonisten gesagt, »er wird versuchen, mit der Welt ins Reine zu kommen, und wird schließlich bei den Jesuiten landen.«
     
    Roberto dachte jetzt an jenes Gespräch vom vorigen Jahr. Die Leere und der Raum waren wie die Zeit, oder die Zeit war wie die Leere und der Raum; war es dann also nicht denkbar, dass es so, wie es Sternenräume gibt, in denen unsere Erde wie eine Ameise erscheint, und winzige Räume wie die Welt der Korallen (Ameisen unseres Universums) – die jedoch alle ineinander verschränkt sind –, dass es dann auch Universen mit verschiedenen Zeitmaßen gibt? Ist nicht gesagt worden, dass auf Jupiter ein Tag so lang dauert wie ein Jahr? Also muss es Universen geben, die im Zeitraum eines Augenblicks leben und sterben, und andere, die länger leben, als alle unsere Berechnungskapazitäten reichen, länger als die chinesischen Dynastien und die Zeit der Sintflut. Universen, in denen alle Bewegungen und die Reaktion auf die Bewegungen nicht die Zeit von Stunden und Minuten einnehmen, sondern von Jahrtausenden, und andere, in denen die Planeten während der Dauer eines Lidschlags entstehen und vergehen.
    Gab es nicht unweit der Stelle, wo er sich befand, einen Ort, an dem die Zeit gestern war?
    Vielleicht war er schon in eines dieser Universen eingetreten, wo von dem Moment, da ein Wasser-Atom begonnen hatte, die Schale einer toten Koralle zu korrodieren, bis zu dem Moment, als diese dann leicht zu bröckeln begann, schon so viele Jahre vergangen waren wie von der Erschaffung Adams bis zur Erlösung. Und lebte er nicht bereits seine Liebe in dieser Zeit, in der sowohl Lilia wie auch die Flammenfarbene Taube zu etwas geworden waren, fürdessen Eroberung ihm inzwischen die Langeweile von Jahrhunderten zur Verfügung stand? War er nicht schon dabei, sich auf ein Leben in einer unendlichen Zukunft einzurichten?
     
    Zu solch weitreichenden Reflexionen sah sich ein junger Edelmann gedrängt, der vor kurzem die Korallen entdeckt hatte ... Und wer weiß, wohin er noch gelangt wäre, wenn er den Geist eines wirklichen Philosophen gehabt hätte. Aber Roberto war kein Philosoph, sondern ein unglücklich Liebender, der soeben zurückkam von einer alles in allem noch nicht von Erfolg gekrönten Reise zu einer Insel, die ihm in die eisigen Nebel des vorigen Tages entglitt.
    Doch er war ein Liebender, der, obwohl in Paris erzogen, als Kind auf dem Lande gelebt und das Landleben nicht vergessen hatte. So kam er zum Schluss, dass die Zeit, an die er dachte, sich in tausenderlei Weise dehnen und strecken ließ wie ein mit Ei angerührter Nudelteig, den er die Frauen auf La Griva hatte auswalzen sehen. Ich weiß nicht, warum ihm gerade dieser Vergleich eingefallen war – vielleicht hatte das lange Nachdenken seinen Appetit angeregt, oder er sehnte sich plötzlich, auch er erschreckt vom ewigen Schweigen all jener Unendlichkeiten, nach der mütterlichen Küche zurück. Jedenfalls fiel es ihm nicht schwer, wenn er daran zurückdachte, sich auch noch anderer Köstlichkeiten zu erinnern.
    Also, da gab es Pasteten, gefüllt mit Vögelchen, Häschen und Fasanen, gleichsam wie um zu sagen, dass es viele Welten nebeneinander oder ineinander geben kann. Aber Robertos Mutter machte auch jene Torten, die sie alla tedesca nannte, mit mehreren Obstschichten, die durch Zwischenschichten aus Butter, Zucker und Zimt getrennt waren. Und nach demselben Muster hatte sie auch eine gesalzene Torte erfunden, in der sie zwischen verschiedene Teigböden abwechselnd hartgekochte und in Scheiben geschnittene Eier, Schinken oder Gemüse packte. Und das brachte Roberto auf den Gedanken, das Universum könnte eine Kuchenform sein, in der verschiedene Geschichten gleichzeitig gebacken werden, jede mit ihrer eigenen Zeit und womöglich alle mit denselben Personen. Und so, wie in der Torte die unten liegenden Eier nicht wissen können, was ihren Artgenossen oder dem Schinken weiter oben zustößt, so kann ein Roberto in dereinen Schicht des Universums nicht wissen, was ein anderer in einer

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