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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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ermatteten, die sich im Licht erregt hatten, so dass Ruhe und Stille einkehre.
    Als er die Lampe ausblies, wurden seine Hände nur noch von einem eindringenden Mondstrahl beleuchtet. Von seinem Magen erhob sich ein Nebel, stieg auf zum Gehirn, senkte sich von dort auf die Lider und schloss sie, so dass der Geist nicht mehr hinausschauen konnte, um irgendetwas zu erblicken, was ihn ablenken könnte. Und bald schliefen von Roberto nicht nur die Augen und Ohren, sondern auch die Hände und Füße – nur nicht das Herz, das niemals ruht.
    Schläft im Schlaf auch die Seele? Leider nein, sie wacht, sie zieht sich nur hinter einen Vorhang zurück und macht Theater; dann treten die närrischen Gespenster auf die Bühne und spielen eine Komödie, aber so, wie es eine Truppe von betrunkenen oder verrückten Schauspielern tun würde, so entstellt erscheinen die Figuren, fremdartig die Kostüme und ungehörig die Haltungen, so ausgefallen die Situationen und maßlos die Reden.
    Wie wenn man einen Tausendfüßler in mehrere Teile zerschneidet, so dass die freigesetzten Teile loslaufen, und keiner von ihnen weiß, wohin, denn außer dem ersten, der den Kopf behält, kann keiner von ihnen was sehen; und jeder läuft wieein unversehrter Käfer auf den fünf oder sechs Füßen, die ihm geblieben sind, und trägt sein Stück Seele mit sich davon. Genauso sieht man in Träumen aus dem Stiel einer Blume den Hals eines Kranichs ragen, der im Kopf eines Pavians endet, aber mit vier Schneckenhörnern, die Feuer sprühen, oder man sieht aus dem Kinn eines Greises anstelle des Bartes einen Pfauenschwanz wachsen; bei einem andern scheinen die Arme zusammengeflochtene Reben zu sein und die Augen kleine Lichter in einer Muschelschale, oder die Nase eine Schalmei ...
    Roberto, der schlief, träumte jedoch die Reise Ferrantes, die weiterging, nur eben jetzt als Traum.
    Als aufschlussreicher Traum, würde ich sagen. Es scheint fast, als hätte Roberto nach seinen Meditationen über die unendlichen Welten keine Lust mehr gehabt, eine Geschichte weiterzuspinnen, die im Land der Romane spielte, sondern als wollte er nun eine wahre Geschichte in einem wirklichen Land spielen lassen, in dem auch er lebte, nur dass – so wie die Insel in der nächsten Vergangenheit lag – seine Geschichte in einer nicht fernen Zukunft spielen konnte, in der sein Verlangen nach weniger kurzen Zeiträumen als jenen, in die ihn sein Schiffbruch zwang, gestillt werden könnte.
    Wenn er die Geschichte damit begonnen hatte, einen manierierten Ferrante in Szene zu setzen, einen Bösewicht von der Ruchlosigkeit eines Jago, ersonnen aus Groll über eine in Wahrheit nie erlittene Beleidigung, so trat er nun, als er es nicht mehr ertrug, den anderen an Lilias Seite zu sehen, an dessen Stelle und gab rückhaltlos zu – indem er es wagte, seine obskuren Gedanken zur Kenntnis zu nehmen –, dass Ferrante kein anderer war als er.
    Überzeugt, dass die Welt durch unendlich viele Parallaxen erlebt werden konnte, wenn man zuvor als ein indiskretes Auge erwählt worden war, das Ferrantes Taten im Land der Romane verfolgte oder in einer Vergangenheit, die auch die seine war (aber ihn berührt hatte, ohne dass er sich dessen bewusst geworden war, indem sie seine Gegenwart bestimmte), wurde Roberto jetzt das Auge Ferrantes. Er wollte mit seinem Widersacher an den Geschehnissen teilhaben, die das Schicksal ihm hätte vorbehalten müssen.
     
    Das Schiff glitt also durch die Wellengefilde, und die Piraten waren folgsam. Während sie über die Reise der beiden Liebenden wachten, beschränkten sie sich auf die Suche nach Seeungeheuern, und bevor sie die amerikanische Küste erreichten, sahen sie einen Triton. Soweit er aus dem Wasser ragte, hatte er Menschengestalt, nur waren die Arme zu kurz für den Körper. Die Hände waren groß, das Haar grau und dicht, und er trug einen langen Bart, der ihm bis zum Bauchnabel reichte. Er hatte große Augen und eine rauhe Haut. Als sie sich ihm näherten, schien er gefügig und kam dem Netz entgegen. Doch sobald er spürte, dass sie ihn zum Boot ziehen wollten, und noch bevor er so weit aus dem Wasser gekommen war, dass man sehen konnte, ob er einen Fischschwanz hatte, zerriss er das Netz mit einem einzigen Ruck und verschwand. Später sahen sie ihn, auf einer Klippe sitzend, ein Sonnenbad nehmen, aber den Unterleib zeigte er immer noch nicht. Er beäugte das Schiff und bewegte die Hände, als ob er applaudierte.
    Als sie in den Stillen Ozean kamen,

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