Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages
anderen tut.
Schon wahr, das ist keine schöne Art zu argumentieren, noch dazu mit dem Bauch. Aber es liegt auf der Hand, dass Roberto den Punkt, auf den er hinauswollte, schon im Kopf hatte: In jenem selben Augenblick würden viele verschiedene Robertos viele verschiedene Dinge tun können, vielleicht auch unter verschiedenen Namen.
Vielleicht auch unter dem Namen Ferrantes? Und war dann womöglich das, was er erfand und für die Geschichte seines feindlichen Bruders hielt, in Wahrheit die dunkle Wahrnehmung einer Welt, in der ihm selbst, Roberto, anderes widerfuhr als das, was er in dieser Zeit und dieser Welt erlebte?
Gib's zu, sagte er sich, gewiss hättest du gerne selbst erlebt, was Ferrante erlebt hatte, als die Tweede Daphne in See gestochen war. Aber dies, wie man weiß, weil es Gedanken gibt, an die man überhaupt nicht denkt, wie Saint-Savin gesagt hatte, Gedanken, die das Herz beeindrucken, ohne dass das Herz sich ihrer bewusst wird (so wenig wie der Kopf). Und es ist unvermeidlich, dass einige dieser Gedanken – die manchmal nichts anderes sind als obskure oder gar nicht so obskure Gelüste – in die Welt eines Romans eindringen, den du aus Lust am Inszenieren der Gedanken anderer zu erfinden glaubst ... Aber ich bin immer noch ich, und Ferrante ist Ferrante, und das werde ich mir jetzt beweisen, indem ich ihn Abenteuer erleben lasse, in denen ich nun wirklich nicht der Held sein könnte – und wenn sich diese Abenteuer in einem Universum abspielen, dann in dem der Phantasie, das zu keinem parallel ist.
Und so vergnügte Roberto sich jene ganze Nacht lang damit, ohne weiter an die Korallen zu denken, ein Abenteuer zu ersinnen, das ihn dann jedoch einmal mehr zur quälendsten aller Wonnen, zum köstlichsten aller Leiden bringen sollte.
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TROST DER SEEFAHRENDEN
F errante erzählte Lilia, die inzwischen jede Lüge geglaubt hätte, solange sie nur von jenen geliebten Lippen kam, eine fast wahre Geschichte; der Unterschied war nur, dass er sich darin die Rolle Robertos und diesem die seine gab. Dann überredete er sie, ihren ganzen mitgebrachten Schmuck dafür zu verwenden, den Usurpator wiederzufinden und ihm ein Dokument von größter Wichtigkeit für die Geschicke Frankreichs abzujagen, das dieser ihm entwendet habe und mit dessen Wiederbeschaffung er sich die Gunst des Kardinals wiedererwerben könne.
Nach ihrer Flucht von den Küsten Frankreichs machte die Tweede Daphne den ersten Halt in Amsterdam. Dort gelang es Ferrante als Doppelspion, der er war, jemanden zu finden, der ihm etwas über ein Schiff namens Amarilli verraten konnte. Was immer er erfuhr, ein paar Tage später war er in London, um jemanden zu suchen. Und der Mann, dem er sich anvertraute, konnte nur ein Treuloser seines Schlages sein, der bereit war, die Auftraggeber seines Verrats zu verraten.
So sehen wir nun Ferrante, der sich von Lilia einen kostbaren Diamanten hat geben lassen, bei Nacht in eine finstere Spelunke treten, wo ihn ein Mensch unbestimmten Geschlechts empfängt, der vielleicht ein Eunuch bei den Türken gewesen war, ein bartloses Gesicht mit einem so kleinen Mund, dass man meint, sein Träger lächelte nur durch Bewegung der Nase.
Der Raum, in dem er sich verborgen hielt, war voll rußiger Rauchschwaden, die von einem Haufen schwelend brennender Knochen aufstiegen. In einer Ecke hing kopfunten ein nackter Leichnam, aus dessen Mund eine grünliche Soße in eine Messingschale troff.
Der Eunuch erkannte in dem Besucher sofort einenBruder im Geiste. Er hörte die Frage, sah den Diamanten und verriet seine Auftraggeber. Dann führte er ihn in einen anderen Raum, der eine Apotheke zu sein schien, voller Tonkrüge, Gläser, Zinn- und Kupfergefäße. Sie enthielten lauter Substanzen, die benutzt werden konnten, um anders zu erscheinen, als man war, ob hässliche alte Vetteln schön und jung aussehen wollten oder ob Halunken ihr Äußeres zu verändern trachteten: Schminken, Weichmacher, Asphodillwurzeln, Dragonrinden und andere Essenzen zum Glätten der Haut, hergestellt aus dem Mark von Rehböcken und aus Geißblattwasser. Da gab es Pasten zum Färben der Haare, hergestellt aus grüner Steineiche, Roggen, Andorn, Salpeter, Alaun und Schafgarbe, oder solche zum Verändern der Hautfarbe, gewonnen aus Extrakten von Kühen, Bären, Stuten, Kamelen, Nattern, Kaninchen, Walen, Rohrdommeln, Damhirschen, Wildkatzen oder Fischottern. Ferner Öle für das Gesicht, aus Storaxbalsam, Zitrone, Pinienkernen, Ulmen,
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