Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages
erfreulich ist als der von eines anderen Ärger. Nein, hier entrüstet sich niemand, hier lacht niemand, hier zeigt sich niemand. Hier gibt es Gott nicht. Hier gibt es nur eine ziellose Hoffnung.«
»Herrgott im Himmel, verflucht seien alle Heiligen!«, versuchte Ferrante wütend zu schreien. »Wenn ich schon verdammt bin, habe ich doch wohl das Recht, mir selbst das Schauspiel meiner Wut zu geben!« Doch er bemerkte, dassihm die Stimme schwach aus der Brust kam, sein Körper lag kraftlos darnieder, er konnte nicht einmal mehr böse werden.
»Siehst du«, sagte der Gehäutete, ohne dass es seinem Mund gelang, ein Lächeln hervorzubringen, »deine Strafe hat schon begonnen. Nicht einmal der Hass ist dir noch erlaubt. Diese Insel ist der einzige Ort im Universum, wo es nicht erlaubt ist zu leiden, wo eine kraftlose Hoffnung sich nicht unterscheidet von einer endlosen Langeweile.«
Roberto hatte sich Ferrantes Ende in einem Stück ausgedacht, während er immer noch auf dem Deck der Daphne lag, nackt wie bei seinem Versuch, Stein zu werden, und inzwischen hatte die Sonne ihm das Gesicht, die Brust und die Beine verbrannt, so dass er nun wieder jene fiebrige Hitze empfand, der er gerade erst entronnen war. Nunmehr bereit, nicht nur den Roman mit der Wirklichkeit zu verwechseln, sondern auch das Glühen der Seele mit dem des Leibes, fühlte er seine Liebe wieder aufflammen. Und Lilia? Was war mit Lilia geschehen, während Ferrantes Leiche zur Insel der Toten trieb?
Mit einem Sprung, der bei Romanautoren nicht selten vorkommt, wenn sie nicht mehr wissen, wie sie ihre Ungeduld zügeln sollen, und nicht mehr die Einheit von Zeit und Ort beachten, übersprang Roberto das Geschehen, um Lilia Tage später, an ihr Türblatt gebunden, wiederzufinden, während sie auf einem nun ruhigen, in der Sonne glitzernden Meer dahintrieb, hin zu – und dies, mein geneigter Leser, hättest du niemals vorauszusagen gewagt – der Ostküste jener selben Salomon-Insel, vor deren Westküste die Daphne verankert lag.
Dort, so hatte Roberto von Pater Caspar erfahren, waren die Strände nicht so lieblich wie auf der Westseite. Das inzwischen recht angeschlagene Türblatt zerschellte an einer Klippe. Lilia erwachte und klammerte sich an den Felsen, indes die Splitter ihres Floßes sich in den Wellen verloren.
Da lag sie nun, auf einem Stein, der sie kaum aufzunehmen vermochte, und eine Handbreit Wasser – aber für sie war's ein Ozean – trennte sie vom Ufer. Vom Sturm gebeutelt, entkräftet vom Fasten, noch schlimmer gequält vom Durst, war sie nicht imstande, sich von jener Klippe an den Strandzu schleppen, hinter dem sie getrübten Blickes graugrüne pflanzliche Formen erriet.
Doch der Felsen glühte unter der schlanken Hüfte, und mühsam atmend zog sie, anstatt ihre innere Hitze abzukühlen, die Hitze der Luft auf sich.
Sie hoffte, dass am nahen Ufer frische Bäche aus schattigen Felsen entsprangen, doch solche Träume linderten nicht ihren Durst, sondern verstärkten ihn nur noch. Sie wollte den Himmel um Hilfe bitten, doch ihr klebte die Zunge am Gaumen, und ihre Töne blieben ein heiseres Krächzen.
Je weiter die Zeit vorrückte, desto mehr kratzte die Peitsche des Windes sie mit Raubvogelkrallen, und mehr als zu sterben fürchtete sie, so lange zu leben, bis die Einwirkung der Elemente sie dermaßen verunstaltete, dass sie aus einem Objekt der Liebe zu einem der Abscheu geworden wäre.
Hätte sie eine Pfütze, ein Rinnsal fließenden Wassers gefunden, sie hätte, während sie ihre Lippen netzte, ihre Augen gesehen, einst zwei funkelnde Sterne, die Leben verhießen, nun zwei schreckenerregende Höhlen; und ihr Gesicht, in dem einst Amoretten sich munter vergnügten, nun grässliche Herberge des Entsetzens. Wäre sie zu einem Teich gelangt, ihre Augen hätten aus Mitleid mit ihrem eigenen Zustand mehr Zähren in ihn vergossen, als ihre Lippen Tropfen aus ihm gesogen.
So jedenfalls ließ Roberto seine Angebetete über sich selber denken. Doch es bereitete ihm Verdruss. Verdruss darüber, dass sie sich so kurz vor dem Tod noch um ihre Schönheit sorgte, wie es die Romane nicht selten verlangten; und Verdruss auch über sich selbst, weil er nicht imstande war, seiner sterbenden Geliebten ohne Hyperbeln des Geistes ins Auge zu sehen.
Wie mochte sie jetzt wirklich aussehen, in ihrer Sterbestunde? Wie wäre sie erschienen, wenn man ihr dieses aus Worten gewebte Totenhemd ausgezogen hätte?
Durch die Strapazen der langen Reise
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