Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages
von Statuen aus Fleisch zu solchen aus Fasern verdünnte.
Der letzte von ihnen, ein Gehäuteter wie Sankt Bartholomäus, hielt die noch blutige Haut in der erhobenen rechten Hand, von der sie schlaff herabhing wie ein abgelegter Schulterumhang. Man erkannte darauf noch ein Gesicht mit den Löchern der Augen und der Nase und der Höhle desMundes, das aussah wie der letzte Rest einer Wachsmaske, die allzu großer Hitze ausgesetzt war.
Und dieser Mensch (beziehungsweise der zahnlose und verformte Mund seiner Haut) sprach zu Ferrante.
»Unwillkommen«, sagte er, »im Lande der Toten, das wir die Insel Vesalia nennen. In Bälde wirst auch du unser Schicksal teilen, aber du darfst nicht glauben, dass jeder von uns hier mit der Schnelligkeit erlischt, die das Grab gewährt. Je nach dem Grad unserer Verdammung wird hier jeder von uns in ein eigenes Verwesungsstadium versetzt, als wollte man uns die Auslöschung genießen lassen, die für jeden hier die höchste Freude wäre. Oh, welche Wonne, sich Gehirne vorzustellen, die, kaum dass man sie berührte, zusammenfielen, Lungen, die beim ersten etwas zu starken Lufthauch zersprängen, Häute, die bei jeder Berührung zerfaserten, Weichteile, die erschlafften, Fettschichten, die sich verflüssigten! Aber nichts da! So, wie du uns hier siehst, sind wir jeder in seinen Zustand gelangt, ohne uns dessen gewahr zu werden, durch unmerkliche Veränderungen, in deren Verlauf unsere Fasern sich jede einzeln aufgelöst haben im Zeitraum von Jahrtausenden und Aberjahrtausenden. Und niemand weiß, bis zu welchem Grade er sich auflösen darf, so dass selbst jene Gerippe, die du dort drüben siehst, immer noch hoffen, ein bisschen mehr sterben zu können, und vielleicht sind es Jahrtausende, in denen sie sich schon in dieser Erwartung verzehren. Andere, wie ich, sind in dieser Gestalt seit ich weiß nicht mehr, wann – denn in dieser ewig hereinbrechenden Nacht haben wir jedes Gefühl für den Fortgang der Zeit verloren –, und doch hoffe ich immer noch, dass mir ein langsames Erlöschen gestattet ist. So wie jeder von uns sich nach einem Zerfall sehnt, der – wie wir sehr wohl wissen – niemals total sein wird, stets in der Hoffnung, dass die Ewigkeit für uns noch nicht begonnen hat, und dennoch fürchtend, dass wir bereits mitten in ihr sind, seit wir vor Zeiten auf diese Insel gelangten. Als wir lebten, glaubten wir, die Hölle sei der Ort der ewigen Verzweiflung, denn so war's uns gesagt worden. Doch leider nein, sie ist der Ort einer unauslöschlichen Hoffnung, die jeden Tag noch grausamer macht als den vorigen, denn diese Sehnsucht, die in uns lebendig gehalten wird, wird niemals gestillt. Da wir immernoch eine Spur von Körper haben und jeder Körper zum Wachsen oder zum Sterben strebt, hören wir nicht auf zu hoffen – und nur so hat unser Richter geurteilt, dass wir in saecula leiden sollten.«
»Was hofft ihr denn?«, fragte Ferrante.
»Frag ruhig, was auch du hoffen wirst ... Du wirst hoffen, dass ein Nichts von Wind, eine winzige Flutwelle, die Ankunft eines einzigen hungrigen Blutegels uns Atom für Atom zurückerstattete in die große Leere des Universums, wo wir noch in gewisser Weise am Kreislauf des Lebens teilhaben könnten. Doch kein Lüftchen regt sich hier, das Meer liegt wie Blei, wir spüren weder Kälte noch Wärme, wir kennen weder Morgenröten noch Sonnenuntergänge, und diese Erde, die noch toter ist als wir, bringt keinerlei tierisches oder pflanzliches Leben hervor. Oh, die Würmer, die uns der Tod einst versprach! Oh, teuerste Würmer, Väter unseres Geistes, der noch auferstehen könnte! Unsere Galle saugend, würdet ihr uns fromm mit der Milch der Unschuld besprengen! Uns beißend; würdet ihr die Gewissensbisse unserer Sünden heilen, uns einlullend mit euren Todesliebkosungen, würdet ihr uns neues Leben gewähren, denn das Grab wäre uns so lieb wie ein Mutterschoß ... Doch nichts von alledem wird geschehen. Das wissen wir, obwohl es dieser unser Körper jeden Moment vergisst ...«
»Und Gott?«, fragte Ferrante. »Gott lacht?«
»Leider nein«, antwortete der Gehäutete, »denn auch die Erniedrigung würde uns noch erheben. Wie schön wäre es für uns, sähen wir wenigstens noch einen lachenden Gott, der sich über uns lustig machte! Wie viel Zerstreuung böte uns das Schauspiel des HErrn, der uns, auf seinem Throne sitzend, umgeben von seinen Heiligen, verlachte! Wir hätten den Anblick der Freude eines anderen, was nicht minder
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