Die Insel Des Vorigen Tages
die Sonne darin eine milchige Atmosphäre erzeugte, die nur unten von den wenigen schwarzen Gestalten der Andächtigen durchbrochen wurde. In dieser friedlichen Stille hörte man nur einen Laut, eine traurige Melodie, die in der elfenbeinernen Luft zu schweben schien, als käme sie aus den Kapitellen oder aus den Schlußsteinen der Gewölbe. Nach einer Weile hatte Roberto dann in einer Seitenkapelle hinter dem Chor einen weiteren Schwarzrock bemerkt, der allein in einer Ecke stand und auf einer Blockflöte spielte, wobei seine Augen weit aufgerissen ins Leere starrten.
Als der Musiker aufgehört hatte, war Roberto näher getreten und hatte ihn gefragt, ob er ihm eine kleine Spende geben dürfe. Ohne ihm ins Gesicht zu sehen, hatte der Mann ihm für sein Lob gedankt, und da hatte Roberto begriffen, daß er blind war. Er sei der Glockenspieler des Doms, der Musicyn en Directeur van de Klokwercken, le carillonneur, il maestro delle campane, hatte er zu erklären versucht, aber es gehöre auch zu seiner Arbeit, die Gläubigen, die sich abends auf dem Domplatz und dem Friedhof rings um die Kirche ergingen. mit Flötenspiel zu unterhalten. Er kenne viele Melodien, und auf jede von ihnen spiele er zwei, drei, manchmal auch fünf Variationen von zunehmender Komplexität.
Noten brauche er keine zu lesen: & sei blind geboren und könne sich in jenem schönen lichten Raum (so sagte er: lichten) seiner Kirche bewegen,- da er die Sonne mit der Haut sehe. Er erklärte Roberto, daß sein Instrument etwas Lebendiges sei, es reagiere auf die Jahreszeiten und die unterschiedlichen Temperaturen am Morgen und am Abend, doch in der Kirche herrsche stets eine milde Wärme, die dem Holz eine gleichbleibende Perfektion sichere - was Roberto darüber nachdenken ließ, welche Vorstellung von milder Wärme die Bewohner, des Nordens haben mochten, während es ihn in jener lichten Klarheit fröstelte.
Der Musiker hatte ihm noch zweimal die erste Melodie vorgespielt und gesagt, sie heiße »Doen Daphne d’over schoone Maeght«. Er hatte jede Gabe abgelehnt, hatte Robertos Gesicht berührt und gesagt -
oder jedenfalls hatte Roberto ihn so verstanden -, »Daphne« sei etwas Süßes, das ihn sein Leben lang begleitet habe.
Nun auf der Daphne schlug er die Augen auf, und zweifellos hörte er jetzt von unten, durch die Ritzen der Planken, die Töne von »Daphne«, als ob sie von einem eher metallischen Instrument gespielt würden, das ohne Variationen zu wagen in regelmäßigen Abständen die erste Phrase der Melodie wiederholte wie ein obstinates Ritornell.
Welch ingeniöses Sinnbild, sagte sich Roberto als erstes, auf einer Fleute namens Daphne zu liegen und eine Flötenmusik namens »Daphne« zu hören! Zwecklos, sich vorzumachen, es handle sich um einen Traum. Es war eine neue Botschaft des Eindringlings.
Abermals griff er zu seinen Waffen, stärkte sich mit einem Schluck aus dem Fäßchen und ging den Tönen nach. Sie schienen aus dem Raum zu kommen, in dem die Uhren gewesen waren. Aber seit er die Uhren auf Deck verteilt hatte, war der Abstellraum leer geblieben. Er besichtigte ihn erneut. Immer noch leer, aber die Musik kam aus der Rückwand.
Beim ersten Besuch überrascht von den Uhren, beim zweiten beschäftigt mit ihrem Transport, hatte Roberto nie geprüft, ob der Raum bis zur hinteren Schiffswand ging. Wenn ja, müßte die Rückwand konkav gebogen sein. Aber war sie das? Die große Leinwand mit dem gemalten Uhrenprospekt erzeugte eine Täuschung der Augen, so daß man nicht gleich begriff, ob die Rückwand flach oder konkav war.
Roberto wollte die Leinwand gerade zerreißen, da bemerkte er, daß sie ein Vorhang war, der sich zur Seite schieben ließ. Dahinter befand sich eine weitere Tür, die mit einem Riegel verschlossen war.
Mit dem Mute der Jünger des Bacchus und als ob er mit einem einzigen Schuß über eine Vielzahl von Feinden triumphieren könnte, legte er die Büchse an, schrie laut (und Gott weiß, warum) »Nevers et Saint-Denis!«, trat die Tür ein und warf sich todesmutig voran.
Das Objekt, das den neuen Raum okkupierte, war eine Orgel, die etwa zwanzig Pfeifen hatte, aus denen die Töne der Melodie kamen. Die Orgel war an der Wand befestigt und bestand aus einem hölzernen Kasten, der auf kleinen metallenen Säulen ruhte. Oben auf dem Kasten erhoben sich die Pfeifen, aber rechts und links von ihnen bewegten sich kleine Automaten. Links sah man eine Art runde Basis mit einem kleinen Amboß darauf, der offenbar
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