Die Insel Des Vorigen Tages
»Wie spät haben wir es, Withrington?«
»Es müßte stimmen: noch eine Viertelstunde bis Mitternacht.«
»Jubeln wir nicht zu früh. Warten wir die Kontrolle ab. Es folgte ein weiteres endloses Warten, der Hund war offenbar eingeschlafen, nachdem sein Schmerz etwas nachgelassen hatte, aber dann jaulte er plötzlich wieder auf, als hätte man ihm auf den Schwanz getreten.
»Uhrzeit, Withrington?«
»Die Stunde ist abgelaufen, es fehlen nur noch wenige Sandkörner.«
»Meine Uhr zeigt bereits Mitternacht«, sagte eine dritte Stimme.
»Mir scheint, das genügt«, sagte Doktor Byrd. »Jetzt hoffe ich nur, daß sie sofort mit der Reizung aufhören, der arme Hakluyt erträgt es nicht mehr. Rasch, Wasser und Salz, Hawlse, und das Läppchen.
Brav, brav, Hakluyt, gleich wird’s besser... Schlaf jetzt, schlaf, jaja, hörst du, dein Herrchen ist da, es ist vorüber... Hawlse, das Schlafmittel ins Wasser.«
»Aye aye, Doktor.«
»Da, trink, Hakluyt ... Ja, brav, trink das gute Wasser ...« Noch ein leises Wimmern, dann wieder Stille.
»Exzellent«, sagte Doktor Byrd. »Wenn dieses verdammte Schiff nicht so indezent schaukeln würde, könnten wir sagen, wir haben einen guten Abend gehabt. Morgen früh, Hawlse, das übliche Salz in die Wunde. Ziehen wir Bilanz: Im entscheidenden Moment war es bei uns Mitternacht, und aus London signalisierten sie uns, daß es dort Mittag war. Wir befinden uns auf dem Antimeridian von London, also auf dem 198. Meridian von den Kanarischen Inseln. Wenn die Salomon-Inseln, wie es die Tradition will, auf dem Antimeridian der Insel des Eisens liegen und wenn wir auf der richtigen Breite sind, müßten wir, wenn wir vor einem guten Wind nach Westen segeln, auf San Cristobal landen, oder wie immer wir jene verdammte Insel umtaufen werden. Wir werden gefunden haben, was die Spanier seit Jahrzehnten suchen, und zugleich werden wir das Geheimnis des Punto Fijo entdeckt haben. Bier her, Cavendish, wir müssen auf Seine Majestät anstoßen, God save the King! «
»God save the King!« riefen die anderen drei im Chor und alle vier waren offensichtlich großherzige Männer, immer noch treu einem König ergeben, der in jenen Tagen wenn nicht schon seinen Kopf verloren hatte, so doch zumindest im Begriff war, sein Reich zu verlieren.
Roberto strengte seinen Kopf an. Als er den Hund am Morgen gesehen hatte, war ihm aufgefallen, daß er sich, wenn man ihn streichelte, etwas beruhigte und daß er, wenn man ihn an einer bestimmten Stelle etwas fester berührte, vor Schmerzen winselte. Wenig genügte, zumal auf einem von Wind und Wellen bewegten Schiff, um in einem kranken Körper verschiedene Empfindungen zu wecken. Vielleicht glaubten diese Unmenschen, eine Botschaft aus London zu empfangen, während der Hund in Wahrheit litt oder Erleichterung empfand, je nachdem, ob die Wellen ihn heftig umherwarfen oder sanft schaukelten. Oder vielleicht ließ Byrd, wenn es dumpfe Begriffe gab, wie Saint-Savin gesagt hatte, durch die Bewegungen seiner Hände den Hund jeweils so reagieren, wie es seinen eigenen uneingestandenen Wünschen entsprach. Hatte er nicht selber gesagt, daß Kolumbus sich geirrt habe, weil er beweisen wollte, daß er viel weiter im Westen angelangt sei? Demnach hing das Schicksal der Welt davon ab, wie diese Irren die Sprache eines Hundes interpretierten? Ein Grummeln im Bauch jenes Ärmsten konnte diese elenden Narren zu der Überzeugung bringen, sie näherten oder entfernten sich von einem Ort, den ebenso elende Spanier, Franzosen, Holländer und Portugiesen sehnlichst suchten? Und er, Roberto, war in dieses Abenteuer verwickelt worden, um eines Tages dem Kardinal Mazarin oder dem jungen Colbert die Gelegenheit zu liefern, Frankreichs Schiffe mit gepeinigten Hunden zu bevölkern?
Die vier waren unterdessen wieder gegangen. Roberto kam aus seinem Versteck hervor und verweilte einen Moment, im Licht seines Teerdochts, vor dem schlafenden Hund. Er sah in diesem armen Tier das ganze Leiden der Welt, die rasende Rede eines Idioten. Seine langsame, lange Erziehung, von den Tagen in Casale bis zu diesem Moment, hatte ihn vor so viele Wahrheiten gestellt. Ach, wäre er doch als Schiffbrüchiger auf der verlassenen Insel geblieben, wie der Malteserritter es wollte, hätte er doch die Amarilli in Brand gesteckt, wie der Malteserritter es bei der anderen Insel wollte, hätte er doch seine Reise auf der dritten Insel bei den ambrafarbenen Eingeborenen beendet oder wäre auf der vierten zum Barden der
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