Die Insel Des Vorigen Tages
entgehen?
Haben nicht auch die ersten Christen unter der Erde gelebt? Genauso leben die Mondbewohner in Katakomben, die ihnen ganz heimisch erscheinen.
Auch ist überhaupt nicht gesagt, daß sie dort im Dunkeln leben müssen. Vielleicht gibt es viele Löcher in der Kruste des Satelliten, und das Innere bekommt Licht durch Tausende von Luftlöchern, es ist eine Dunkelheit, die von Lichtbündeln durchzogen wird, wie es in Kirchen geschieht oder im Unterdeck der Daphne . Oder nein, an der Mondoberfläche gibt es Phosphorsteine, die sich tagsüber mit dem Licht der Sonne vollsaugen, um es nachts wieder abzugeben, und die Mondbewohner holen sich diese Steine bei jedem Sonnenuntergang und horten sie, so daß ihre Höhlen stets heller erleuchtet sind als ein Königspalast.
Paris, dachte Roberto. Und weiß man nicht, daß auch Paris, wie Rom, von Katakomben unterhöhlt ist, in denen sich nachts bekanntlich die Diebe und Bettler versammeln?
Die Bettler! Das war die Idee, um Ferrante zu retten! Die Bettler, die einen König haben, der sie, wie erzählt wird, nach ehernen Gesetzen regiert, die Bettler, eine Gesellschaft übler Halunken, die von Missetaten, Räubereien und Gaunereien leben, von Meuchelmord und Entführung, Betrug, Gemeinheit und Niedertracht, während sie vorgeben, Profit aus der christlichen Nächstenliebe zu ziehen!
Eine Idee, auf die nur eine verliebte Frau kommen konnte! Lilia - erzählte sich Roberto - wandte sich nicht an hochmögende Leute bei Hofe oder an solche vom Amtsadel, sondern an ihre letzte Kammerzofe, die unzüchtigen Verkehr mit einem Kutscher hatte, der sich in den Tavernen um Notre-Dame auskannte, wo bei Sonnenuntergang jene Bettler auftauchen, die tagsüber scheinbar demütig vor den Kirchentoten die Hand ausstrecken ... Das war der Weg.
In tiefer Nacht bringt ihr Führer sie in die Kirche von Saint Martin-des-Champs, hebt eine Steinplatte im Boden des Chores, läßt sie in die Katakomben von Paris hinabsteigen und sich dort unten im Licht einer Fackel auf die Suche nach dem König der Bettler machen.
Da geht sie, verkleidet als junger Edelmann, androgyn und geschmeidig, tastet sich vorwärts durch schmale Gänge, steigt Treppen hinunter und zwängt sich durch Katzentüren, indes da und dort aus dem Dunkel verrenkte Leiber auftauchen, zusammengekauert zwischen Abfall und Lumpen, die Gesichter entstellt von Warzen, Pickeln und Blatternarben, von eitrigen Flechten und brandigen Schwären, alle mit ausgestreckter Hand wedelnd, wobei unklar ist, ob sie um Almosen betteln oder mit der Miene adliger Kammerherren sagen wollen: »Geht nur, geht weiter, unser Herr erwartet Euch schon.«
Und da saß er, ihr Herr, saß in der Mitte eines Saales tief unter der Stadt, auf einem Faß, umgeben von Taschendieben, Betrügern, Fälschern und Bänkelsängern, von einem Gesindel, dem keine Untat und Scheußlichkeit fremd war.
Das also war der König der Bettler? In einen verschlissenen Mantel gehüllt, die Stirn übersät mit Knötchen, die Nase zerfressen von einer Fäulnis, die Augen marmorn, das eine grün, das andere schwarz, der Blick verschlagen, die Brauen herabhängend, die Hasenscharte klaffend über spitzen, vorstehenden Wolfszähnen, die Haare struppig, die Haut grau und sandig, die Hände plump, die Finger kurz und dick mit krummgebogenen Nägeln ...
Als dieser Mann die Signora angehört hatte, erklärte er ihr, er verfüge über eine Armee, mit der verglichen die des Königs von Frankreich eine Provinzgarnison sei. Außerdem sei sie weit weniger kostspielig: Wenn seine Männer in einer akzeptablen Höhe entschädigt würden - sagen wir: mit dem Doppelten dessen, was sie in der gleichen Zeit durch Betteln zusammenbringen könnten -, würde er sich für einen so großzügigen Auftraggeber umbringen lassen.
Lilia streifte sich einen Rubinring vom Finger und fragte (wie es in solchen Fällen üblich ist) im Ton einer Königin: »Genügt Euch das?«
»Das genügt mir«, sagte der König der Bettler, während er das Juwel mit seinen verschlagenen Blicken umschmeichelte. »Nennt uns den Ort.« Und als er den Ort erfahren hatte, fügte er hinzu: »Meine Leute benutzen weder Pferde noch Wagen, aber dorthin kann man auf Booten gelangen, man braucht nur dem Lauf der Seine zu folgen.«
Roberto stellte sich vor, daß Ferrante, während er bei Sonnenuntergang auf dem Wachturm des Forts mit Hauptmann Biscarat plauderte, sie plötzlich herannahen sah. Zuerst erschienen sie auf den Dünen, dann
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