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Die Insel Des Vorigen Tages

Die Insel Des Vorigen Tages

Titel: Die Insel Des Vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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tun solle, und umgekehrt.
    Diese Insulaner konnten nämlich nur leben, wenn sie erzählt wurden; und wenn ein Übeltäter von den anderen unangenehme Geschichten erzählte und sie damit zwang, diese zu leben, dann erzählten die anderen einfach nichts mehr von ihm, und so mußte er sterben.
    Doch ihr Problem war, für jeden eine andere Geschichte zu erfinden; denn wenn alle die gleiche Geschichte gehabt hätten, wären sie nicht mehr zu unterscheiden gewesen, denn jeder von uns ist der, den seine Geschichten geschaffen haben. Deshalb hatten sie ein großes Rad konstruiert, das sie Cynosura Lycensis nannten und aufrecht auf den Dorfplatz gestellt hatten. Es bestand aus sechs konzentrischen Kreisen, die sich jeder für sich drehen ließen. Der erste war in vierundzwanzig Felder geteilt, der zweite in sechsunddreißig, der dritte in achtundvierzig, der vierte in sechzig, der fünfte in zweiundsiebzig und der sechste in vierundachtzig. In den Feldern standen geschrieben, verteilt nach Kriterien, die Lilia und Ferrante in der kurzen Zeit nicht verstanden, Tätigkeiten wie Gehen , Kommen oder auch Sterben , Leidenschaften wie Hassen , Lieben oder auch Frieren, dazu Modalitäten wie gut und schlecht , traurig oder fröhlich und schließlich Orts- und Zeitangaben wie zu Hause oder nach einem Monat.
    Wenn man diese Räder nun drehte, erhielt man Geschichten wie »Gestern ging er nach Hause und traf seinen Feind, der Schmerzen litt, und brachte ihm Hilfe«, Oder »Er sah ein Tier mit sieben Köpfen und tötete es«. Die Insulaner behaupteten, daß man mit dieser Maschine siebenhundertzweiundzwanzig Millionen Millionen verschiedene Geschichten schreiben oder denken könne, und das sei genug, um dem Leben eines jeden von ihnen in allen kommenden Jahrhunderten einen Sinn zu geben. Das gefiel Roberto gut, denn mit einem solchen Rad hätte er sich weiter Geschichten ausdenken können, selbst wenn er zehntausend Jahre auf der Daphne bleiben würde.
    Es gab noch viele andere bizarre Länder, die Roberto gerne entdeckt hätte. Aber an einem bestimmten Punkt seiner Träumerei wollte er für die beiden Liebenden einen weniger bevölkerten Ort haben, damit sie ihre Liebe genießen konnten.
    So ließ er sie zu einem siebten, überaus lieblichen Strand gelangen, den ein Wäldchen zierte, das sich direkt am Ufer des Meeres erhob. Sie durchquerten es und fanden sich in einem königlichen Park, in dem an einer von zwei Baumreihen gesäumten Allee, die zwischen mit Rabatten geschmückten Wiesen dahinlief, vielerlei Springbrunnen plätscherten.
    Doch als suchten sie einen intimeren Ort und er neue Qualen, ließ Roberto die beiden zu einem blütenbekränzten Bogen gelangen, hinter welchem sie in ein kleines Tal eindrangen, wo Schilfstengel in einer sanften Brise raschelten, die eine Mischung von Wohlgerüchen durch die linde Luft strömen ließ, und aus einem kleinen See kam ein Bächlein klaren Wassers, glitzernd wie eine Perlenschnur.
    Er wollte - und mir scheint, daß seine Inszenierung perfekt alle Regeln befolgte -, daß der Schatten einer mächtigen Eiche die Liebenden zur Minne ermuntere, und er fügte fröhliche Platanen, bescheidene Erdbeerbäume, stechende Wacholder, zarte Tamarisken und biegsame Linden hinzu, die eine Wiese umstanden, die bunt illustriert wie ein orientalischer Wandteppich war. Und womit konnte die Natur sie illustriert haben, als Malerin der Welt, die sie war? Mit Veilchen und Narzissen.
    Er ließ zu, daß die beiden sich verloren, während ein weicher Klatschmohn das benommene Haupt aus schwerem Schlafe erhob, um sich an jenen taufeuchten Seufzern zu laben. Dann aber zog er es vor, daß der Mohn, von soviel Schönheit gedemütigt, vor Scham und Schmach purpurrot wurde. Wie übrigens er selber, Roberto, und wir müssen sagen, daß es ihm recht geschah.
    Um nicht mehr den zu sehen, an dessen Stelle er selber so gern gesehen worden wäre, schwang sich Roberto in seiner morpheischen Allwissenheit dazu auf, die ganze Insel zu überschauen, auf der jetzt die Springbrunnen das Liebeswunder kommentierten, als dessen Brautführer sie sich verstanden.
    Es gab Brunnen in Form von schlanken Säulen, Amphoren, Phiolen, aus denen ein einziger Wasserstrahl kam - oder viele aus vielen kleinen Düsen -, andere hatten auf der Spitze etwas wie eine Arche, aus deren Fenstern wechselnde Fontänen schossen, die im Fallen eine doppelt weinende Trauerweide bildeten. Einer, der unten gleichsam nur ein dicker zylindrischer Stamm war, zeugte

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