Die Insel Des Vorigen Tages
Zügellosigkeit an jenem Abend entschuldigt, nicht für das, was er gesagt hatte, aber für die ungehobelte Art, wie er es gesagt hatte. Dann hatte er Roberto gebeten, ihm von Signor Pozzo zu erzählen, und Roberto war ihm dankbar für das zumindest vorgetäuschte Interesse. Er erzählte, wie ihm sein Vater das Fechten beigebracht hatte, Saint-Savin stellte einige Fragen, begeisterte sich bei der Erwähnung eines bestimmten Stoßes, zog seinen Degen und wollte auf der Stelle, mitten auf einer Piazza, daß Roberto ihm den Stoß zeigte. Aber entweder kannte er ihn schon, oder er war sehr flink, denn er parierte ihn gewandt, anerkannte jedoch, daß es sich um eine Raffinesse der Hohen Schule handelte.
Zum Dank zeigte er Roberto eine von seinen Spezialitäten. Er ließ ihn Aufstellung nehmen, sie tauschten einige Finten, er wartete auf den ersten Angriff, schien plötzlich auszurutschen und nach hinten zu fallen, und während Roberto verblüfft den Degen sinken ließ, war er wie durch ein Wunder schon wieder auf den Beinen und trennte ihm einen Knopf vom Rock - als Beweis, daß er ihn auch hätte verletzen können, wenn er fester zugestoßen hätte.
»Nun, wie gefällt Euch das, mein Freund?« sagte er, während Roberto sich grüßend geschlagen gab.
»Das ist der Coup de la Mouette, der Möwenstoß. Wenn Ihr eines Tages das Meer befahrt, werdet Ihr sehen, daß diese Vögel senkrecht herabschießen, als ob sie fielen, und knapp über dem Wasser fangen sie sich ab und steigen mit einer Beute im Schnabel wieder auf. Es ist ein Stoß, der lange Übung erfordert, und er gelingt nicht immer. Bei mir ist er jenem Prahlhans nicht gelungen, der ihn erfunden hatte. So verlor er sein Leben und sein Geheimnis. Ich glaube, der Verlust des zweiten hat ihn mehr gewurmt als der des ersten.«
Sie hätten noch lange so weitergefochten, wenn nicht bereits eine kleine Schar von Neugierigen zusammengekommen wäre. »Hören wir auf«, sagte Roberto, »ich möchte nicht gern, daß jemand bemerkt, daß ich meine Trauer vergessen habe.«
»Ihr ehrt Euern Vater jetzt mehr«, sagte Saint-Savin, »indem Ihr Euch seiner Lehren erinnert, als vorhin in der Kirche, wo Ihr schlechtes Latein hörtet.«
»Monsieur de Saint-Savin«, fragte Roberto, »fürchtet Ihr eigentlich nicht, auf dem Scheiterhaufen zu enden?«
Saint-Savins Miene verdüsterte sich für einen Augenblick. »Als ich ungefähr in Eurem Alter war, hegte ich große Bewunderung für jemanden, der für mich wie ein älterer Bruder war. Er hieß Lucillus wie ein antiker Philosoph, und er war auch ein Philosoph, und Priester dazu. Er ist auf dem Scheiterhaufen in Toulouse verbrannt worden, aber vorher haben sie ihm die Zunge herausgerissen und ihn erwürgt.
Woran Ihr seht, wenn wir Philosophen flink mit der Zunge sind, dann nicht nur, wie jener Herr neulich sagte, um den bon ton zu pflegen. Sondern auch, um möglichst viel Nutzen aus ihr zu ziehen, bevor man sie uns herausreißt. Oder, Scherz beiseite, um mit den Vorurteilen aufzuräumen und die natürliche Vernunft der Dinge freizulegen.«
»Dann glaubt Ihr also wirklich nicht an Gott?«
»Ich finde in der Natur keinen Grund dazu. Und damit stehe ich nicht allein. Strabo berichtet, daß die Galizier keine Vorstellung von einem höheren Wesen hatten. Und als die Missionare zu den Eingeborenen der Westindischen Inseln über Gott sprechen wollten - berichtet Acosta, der immerhin Jesuit war -, mußten sie das spanische Wort Dios benutzen. Ihr werdet es nicht glauben, aber in der Sprache jener Eingeborenen gab es keinen passenden Ausdruck. Wenn die Idee von Gott nicht in der Natur vorkommt, muß es sich um eine Erfindung der Menschen handeln ... Aber nun schaut mich nicht so an, als hätte ich keine gesunden Prinzipien und wäre kein treuer Diener meines Königs. Ein wahrer Philosoph will keineswegs die Ordnung der Dinge umstürzen. Er akzeptiert sie. Er will nur, daß man ihn diejenigen Gedanken kultivieren läßt, die einer starken Seele Trost spenden. Für die anderen ist es ein Glück, daß es Päpste und Bischöfe gibt, die die Massen von der Revolte und vom Verbrechen abhalten.
Die Ordnung des Staates verlangt eine Regelung des Benehmens, die Religion ist notwendig für das Volk, und der Weise muß einen Teil seiner Unabhängigkeit opfern, damit die Gesellschaft nicht auseinanderfällt. Was mich betrifft, so glaube ich, ein nüchterner Mann zu sein: Ich bin meinen Freunden treu, ich lüge nicht, außer wenn ich eine
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