Die Insel Des Vorigen Tages
dem Fall zu stehen schien, mehr denn je daran dachten, den Bündnispakt zu revidieren. »Mit Toiras«, sagte er, »müssen wir - ohne Falsch wie die Tauben sein, aber klug wie die Schlangen, falls sein König dann hinterher unsere Stadt verkaufen will. Wir müssen kämpfen, damit es auch unser Verdienst ist, wenn Casale sich rettet; aber ohne zu übertreiben, damit, wenn es fällt, es allein die Schuld der Franzosen ist.« Und er fügte als Lehre für Roberto hinzu: »Der Kluge darf nicht nur ein Eisen im Feuer haben.«
»Aber die Franzosen sagen, daß Ihr Krämer seid: Niemand sähe Euch jemals kämpfen, aber alle sähen, daß Ihr zu Wucherpreisen verkauft!«
»Wer lange leben will, ist gut beraten, wenig zu taugen. Der gesprungene Topf ist der, der nie ganz zerbricht und der schließlich langweilt, weil er so lange hält.«
Eines Morgens, in den ersten Septembertagen, fiel ein befreiender Wolkenbruch auf Casale. Gesunde und Rekonvaleszente liefen hinaus, um sich unter die Dusche zu stellen, die alle Spuren der Ansteckung abwaschen sollte. Es war mehr eine Art, neuen Mut zu fassen, als eine Kur, und die Krankheit wütete auch nach dem Gewitter weiter. Die einzigen tröstlichen Nachrichten betrafen die Verheerungen, die die Pest auch im Feindeslager anrichtete.
Sobald er sich wieder auf den Beinen halten konnte, wagte Roberto sich aus dem Kloster, und nach einer Weile erblickte er auf der Schwelle eines Hauses, das mit einem grünen Kreuz als ein verseuchtes Haus gekennzeichnet war, das Mädchen Anna Maria oder Francesca Novarese. Sie war ausgemergelt wie eine Gestalt aus dem Totentanz. Von dem einstigen Schneeweiß und Granatapfelrot ihres Gesichts war nur noch ein fahles Gelb geblieben, auch wenn ihre eingefallenen Züge noch an die frühere Anmut erinnerten. Roberto fiel ein Satz von Saint-Savin ein: »Macht Ihr vielleicht Eure Kniefälle weiter, wenn das Alter jenen Leib zu einem Gespenst reduziert hat, das zu nichts anderem mehr taugt, als Euch an den nahen Tod zu erinnern?«
Sie schluchzte an der Schulter eines Kapuziners, als hätte sie eine teure Person verloren, vielleicht ihren Franzosen. Der Mönch, dessen Gesicht noch grauer war als sein Bart, hielt sie umfangen und deutete mit knochigem Finger zum Himmel, als wollte er sagen: »Eines Tages, dort oben ...«
Liebe wird nur dann etwas Geistiges, wenn der Körper begehrt und das Begehren unterdrückt wird. Ist der Körper geschwächt und unfähig zu begehren, so verflüchtigt sich das Geistige. Roberto entdeckte, daß er zu schwach war, um noch zu lieben. Exit Anna Maria (Francesca) Novarese.
Er ging ins Kloster zurück und legte sich wieder ins Bett, entschlossen, diesmal wirklich zu sterben - zu sehr litt er daran, daß er nicht mehr litt. Pater Emanuele ermunterte ihn, an die frische Luft zu gehen.
Aber die Nachrichten, die er von draußen erhielt, ermunterten ihn nicht zum Weiterleben. Inzwischen gab es außer der Pest auch die Hungersnot, ja etwas noch Schlimmeres: eine verbissene Jagd nach dem letzten Eßbaren, das die Casaler noch versteckt hielten und ihren Verbündeten nicht herausrücken wollten. Roberto sagte, wenn er nicht an der Pest sterben könne, wolle er Hungers sterben.
Schließlich setzte Pater Emanuele sich durch und jagte ihn hinaus. Als Roberto um eine Ecke bog, stieß er auf eine Gruppe spanischer Offiziere. Er wollte fliehen, aber sie zogen höflich den Hut. Da begriff er, daß die Feinde, nachdem sie mehrere Bastionen gesprengt hatten, sich an mehreren Stellen der Stadt festgesetzt hatten, so daß man nun sagen konnte, nicht mehr das Umland belagere Casale, sondern Casale belagere sein eigenes Kastell.
Am Ende der Straße traf er auf Saint-Savin. »Mein lieber La Grive«, sagte der, »Ihr seid als Franzose erkrankt und als Spanier genesen! Dieser Teil der Stadt ist jetzt in feindlicher Hand.«
»Und wir dürfen passieren?«
»Wißt Ihr nicht, daß ein Waffenstillstand geschlossen worden ist? Außerdem wollen die Spanier das Kastell, nicht uns. Im französischen Teil geht der Wein zur Neige, und die Casaler holen ihn aus ihren Kellern, als handle es sich um das Blut Unseres Herrn. Ihr könnt die guten Franzosen nicht daran hindern, gewisse Tavernen in diesem Teil der Stadt zu besuchen, wo die Wirte jetzt besten Wein aus der Umgebung anbieten. Und die Spanier empfangen uns wie große Herren. Wir müssen nur die vereinbarten Anstandsregeln einhalten: Wenn wir Streit anfangen wollen, müssen wir’s in unserem Teil tun und
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