Die Insel: (Inseltrilogie #1) (German Edition)
Halbdunkel dennoch seine besorgt gerunzelte Stirn sehen.
„Ich sitze bei Ami, weil sie zu Tode erschrocken ist,“ gibt er leise, aber entrüstet zurück. „Saul dreht durch. Er hat alle mit seinem Toben und Schreien geweckt, erzählt wir hätten einen verruchten Dieb in unserer Mitte, aber er will uns nicht sagen, was er verloren hat.“
„Seinen Verstand wahrscheinlich“, frotzelt Ami.
„Das ist ja wohl nichts neues. Warum also jetzt deswegen ein Fass aufmachen?“, spottet Colin.
„Ich weiß, was Saul verloren hat“, sage ich.
Einen Moment lang ist es in der Hütte ganz still.
„Du weißt es?“, zischt Colin dann. „Und was ist es?“
„Ich habe die Schrift gestohlen“, antworte ich nüchtern.
„Hast du nicht.“
„Hab ich wohl.“ Jetzt klinge ich schon genauso selbstgefällig wie Walt vorhin.
„Aber... warum?“
„Weil darin Dinge stehen, die Saul vor uns geheim hält. Andy hat es erzählt. Wenn wir wüssten, was tatsächlich darin steht, könnte Saul uns niemals so anführen wie er es jetzt tut.“
Colin stößt überrascht die Luft aus. „Okay“, murmelt er. „Wenn Andy es sagt...“
„Was hast du damit gemacht?“, fragt Ami und sieht mich völlig fassungslos an.
„Ich habe es an einem Ort weit weg versteckt, wo Saul es niemals finden wird. Ich hätte es niemals nah am Haus versteckt halten können.“ Ich setze mich mit einem tiefen Seufzer hin. „Haben sie eigentlich schon diese Hütte durchsucht?“
„Zwei mal.“ Colin nickt grimmig. „Saul hätte mich gerne auf frischer Tat ertappt, das kann ich dir sagen. Er kann mich nicht ausstehen.“
Ich schüttle benommen den Kopf. „Colin, das ist irrsinnig. Warum hören wir immer noch auf Saul? Niemand kann ihn wirklich leiden. Wir können alle sehen, dass er ein ungerechter Widerling ist. Und trotzdem über lassen wir ihm die Führung.“
Mein Bruder sieht zerrissen aus. „Weil er der Stärkste ist. Und du weißt, was die Schrift sagt – wir brauchen einen starken Anführer. Jemand, der uns beibringt zu überleben.“
„Nein, das steht so nicht in der Schrift. Zumindest hat Mara mir das erzählt, und sie hat es von Andy.“
Ami schüttelt verneinend den Kopf. „Wenn es dir nicht passt wie jemand dich anführt, dann musst du dich auflehnen und selbst zum Anführer werden. Aber wenn du das nicht kannst, kannst du gar nichts tun. Naja, du könntest dich formell bei den Eltern in Newexter beschweren, aber wer würde das schon tun, solange er noch alle Sinne beisammen hat? Es würde dich von ihnen abhängig machen. Dich von deiner eigenen Macht abschneiden.“
Manchmal wünschte ich mir, ich könnte in den Armen meiner Mutter Schutz suchen, wenn es hart auf hart kommt. Das würde ich niemals laut sagen – das würde mich wirklich zu einer Ungläubigen machen, so wie Walt mich genannt hat – aber ich werde niemals das warme Gefühl vergessen, dass ich immer als Kind verspürte, wenn meine Mutter zu mir geeilt kam als ich weinte. Es fühlte sich so... natürlich an.
Instinktiv greife ich nach der Halskette, die ich trage, aber die gezackten Kanten der gebrochenen Walnuss drücken sich schmerzhaft in meine Handfläche. „Sie ist kaputt“, nuschle ich matt und zeige Colin den Anhänger. „Mutters Halskette.“
Colin nimmt mir den Anhänger aus der Hand und nimmt dann die Kette von meinem Hals. „Bist du hingefallen, als du weggelaufen bist?“
„Ja, es tut mir leid.“ Ich weiß, dass Colin immer ein wenig eifersüchtig war, dass ich ein Geschenk von unserer Mutter bekommen habe, und jetzt habe ich es auch noch kaputt gemacht.
Als er die Walnuss in seiner Hand dreht, um sich die beschädigte Seite anzuschauen, verengen sich seine Augen. „Hey, Moment mal. Da ist was drin.“ Ganz behutsam bricht er ein Stück der Schale ab und bringt dann ein klitzekleines Stück Papier zum Vorschein, das wie eine Notiz aussieht.
Altes, vergilbtes Papier wie das, aus dem die Schrift ist.
„Was ist das?“, flüstere ich. Habe ich all die Jahre eine geheime Botschaft mit mir herum getragen?
Könnte Mutter sie für mich und Colin hinterlassen haben?
Mit zitternden Fingern entfaltet Colin die Nachricht. Seine Augen huschen über die Zeilen.
„Colin, was steht denn da?“, zische ich, als er nicht laut vorliest. Ich bin so ungeduldig, ich möchte ihm für sein Schweigen eine klatschen.
„Großmutter hat es geschrieben“, antwortet er leise.
Eine Nachricht aus der Vergangenheit? Großmutter ist schon seit langer Zeit tot.
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