Die Insel: (Inseltrilogie #1) (German Edition)
An einem schicksalhaften Herbsttag ist sie im Meer ertrunken, als sie zu weit raus geschwommen ist.
Mein Bruder gibt mir die Nachricht. Eine altmodische Handschrift schaut mir entgegen.
Meine liebe Maya,
wenn du das liest, habe ich dich weggeschickt. Nach dem Gesetz von Newexter. Aber nach den Gesetzen von Hoffnungshafen, wo ich herkomme, hätte ich dich niemals gehen lassen sollen. Eltern und Kinder trennen sich nicht. Dir wurde beigebracht, dass meine Leute Narren sind, und früher einmal habe ich dem zugestimmt. Ich bin von dort fortgegangen, weil ich es idiotisch fand jeden Tag auf Rettung zu warten, die niemals kommen würde. Aber in einem hatten sie recht – die Liebe einer Mutter stirbt niemals.
Kenne deine Wurzeln. Wisse, dass es noch mehr da draußen gibt als unsere eigene, kleine Welt. Wenn du zurück kommst und für meine Liebe offen bist, gehen wir zusammen über die Mauer.
Glaube, Liebe und Hoffnung,
deine Mutter Toja
Ich fühle mich, als hätte mir gerade jemand eins mit einem Hammer übergezogen.
Meine Großmutter war eine Närrin. Und meine Mutter hat es nie gewusst. Sie wusste nicht, dass sie die Walnuss hätte öffnen sollen, und hat somit die Nachricht nie gelesen.
Meine Augen hängen auf den Worten, die am meisten aus dem kurzen Text herausstechen: Die Liebe einer Mutter stirbt niemals. Plötzlich stehen mir Tränen in den Augen.
„Großmutter und Mutter konnten sich nie unterhalten, als Mutter zurück nach Newexter kam“, sagt Colin mit gedämpfter Stimme. „Großmutter ist ertrunken, bevor Mutter vom Landgut zurückkam.“
„Sie war aus Hoffnungshafen“, flüstere ich. „Das Dorf auf der Narrenseite.“
„Woher weißt du das?“
Ich bleibe stumm. Die Worte stecken in meinem Hals fest. Aus irgendeinem Grund möchte ich Walt für mich behalten. Außerdem könnte Colin wütend auf mich werden, wenn ich ihm erzähle, dass ich unser wertvollstes Schriftstück einem Fremden gegeben habe – einem Außenseiter. „Weil Saul einen Mann gefangen hält, der behauptet, aus Hoffnungshafen zu sein“, erzähle ich eine Halbwahrheit. „Ich habe Saul und Ben beobachtet wie sie ihn in den Keller gesperrt haben. Danach habe ich die Schrift gestohlen und bin weggelaufen, um sie irgendwo in der Nähe der Mauer zu verstecken.“
„Saul hat einen Narren in seinem Keller?“ Colin sieht baff aus. „Warum das?“
„Ich glaube, dieser Mann hat versucht, Saul Dinge zu erzählen, die er nicht hören wollte. Dinge, von denen er außerdem nicht will, dass wir sie hören.“
Colin blinzelt einen Moment, dann nickt er kurz. „Okay. Also ich sage jetzt, was ich als nächstes tun werde. Ich werde gleich morgen früh als erstes zu Andy gehen und mit ihm reden. Er weiß mehr über Saul und ist einer der stärksten in unserer Gruppe. Wenn es jemand mit Saul aufnehmen kann, dann er.“
Ich nicke zurück. „Und ich werde morgen zurück zu meinem Versteck gehen und in der Schrift lesen. Ich muss die Seiten finden, von denen Andy gesprochen hat. Wenn rauskommt, dass Saul sich nicht an die Regeln hält, werden alle rebellieren.“
Wir bleiben drinnen still bis der Aufruhr draußen sich endlich legt. Ami kriecht vor und linst zur Tür hinaus. „Die Luft ist rein“, flüstert sie.
Colin und ich schleichen hinaus und rennen schnell über den Rasen zu unseren Zelten. Wir sind schon fast da, als Ben ganz plötzlich aus dem Nichts erscheint und uns stoppt.
„Wo wart ihr?“, verlangt er zu wissen, wobei er mit dem Finger auf mich zeigt und dabei fast meine Brust berührt.
Ich stolpere zurück. „Ich war bei Mara“, improvisiere ich. Ich kann wohl kaum sagen, dass ich bei Ami war, denn er und Saul haben ihre Hütte zwei Mal durchsucht.
Ben‘s Augen verengen sich zu Schlitzen. „Sie hat gesagt, sie wäre allein in ihrem Zelt gewesen.“
„Tja, ich war da.“ Ich blicke ihn glühend an. Wenn ich nur ärgerlich genug dreinschaue, wird er mir vielleicht glauben.
„Warum warst du da?“, verhört Ben mich weiter.
„Warum sollte ich nicht dort sein?“, gebe ich zurück. „Mara ist meine beste Freundin.“
Seine Lippen kräuseln sich in ein humorloses Lächeln. „Na klar. Und warum genau würde sie dich...“ Er hält mitten im Satz inne. Dann schaut er mich an, als sähe er mich zum ersten Mal. „... verstecken“, beendet er dann monoton. Ich sehe in seinen Augen wie ihm etwas dämmert – ich habe aber keine Ahnung, was er glaubt gerade herausgefunden zu
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